Flüchtlinge aus der Ukraine in der Schweiz: Was sind die Herausforderungen und Lehren nach zwei Jahren?

Dialog unter Expertinnen und
Experten

Freitag 15. März 2024, 10:30-17:30, Allresto Kongresszentrum, Effingerstrasse 20, Bern


Mehr als 100 Teilnehmende aus der Bundesverwaltung, kantonalen Regierungen, Hilfswerken und NGOs, der ukrainischen Gemeinschaft, Arbeitgeberverbänden, internationalen Organisationen sowie Forscher*innen und Interessierte trafen sich am 15. März 2024 auf Einladung des Nationalen Forschungsschwerpunkts nccr – on the move und des Büro für die Schweiz und Liechtenstein der UN-Flüchtlingsorganisation (UNHCR) in Bern, um das Thema “Flüchtlinge aus der Ukraine in der Schweiz: Was sind die Herausforderungen und Lehren nach zwei Jahren?” zu diskutieren.
Wir haben die wichtigsten Ergebnisse der Veranstaltung in Form von drei Fragen und Antworten für jedes Panel zusammengefasst.
Die Veranstaltung wurde von Inés Mateos moderiert.

Nach einer Einführung von Gianni D’Amato (nccr – on the move) und Anja Klug (UNHCR) und vor der ersten Podiumsdiskussion ergriffen Yelyzaveta Glynko und Peter Moozolevskyi (NCBI) das Wort. Die beiden ukrainischen Flüchtlinge teilten einige Überlegungen über den Status S und die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen. Neben den Möglichkeiten, die sich ihnen durch ihren Status eröffnet haben, betonten sie die Notwendigkeit, den Status S zu verlängern, die Anerkennung von Bildungsabschlüssen zu vereinfachen sowie die Kommunikation und den Brückenschlag zur ukrainischen Gemeinschaft zu verbessern.

Integration in den Arbeitsmarkt

Panel mit:

  • Isabelle Moret, Staatsrätin und Vorsteherin des Departements für Wirtschaft, Innovation, Beschäftigung und Kulturerbe DEIEP, Kanton Waadt
  • Philipp Berger, Chef der Abteilung Zulassung Arbeitsmarkt, Staatssekretariat für Migration SEM
  • Daniella Lützelschwab, Ressortleiterin Arbeitsmarkt, Schweizerischer Arbeitgeberverband
  • Andrej Lushnycky, Honorarkonsul der Ukraine in der Schweiz und Vorsitzender des Ukrainischen Vereins der Schweiz

Dieses Panel befasste sich mit den Herausforderungen und Strategien zur Erhöhung der Beschäftigungsquote von ukrainischen Flüchtlingen in der Schweiz.

Der Bundesrat hat kürzlich den Wunsch geäussert, die Beschäftigungsquote für Flüchtlinge aus der Ukraine von 20 auf 40% zu erhöhen. Welche Herausforderungen gibt es bei der Integration von ukrainischen Flüchtlingen in den Schweizer Arbeitsmarkt?

Isabelle Moret äusserte Zweifel am Ziel des Bundesrates, betonte jedoch, dass 100% der ukrainischen Flüchtlinge ihrem Alter und ihrer persönlichen Situation entsprechend eingebunden sein sollten (Bildung, Ausbildung, Selbstfürsorge, Arbeit, Kinderbetreuung). Um diese Ziele zu erreichen, müsse eine angemessene Unterstützung in den Bereichen Spracherwerb, Pflege, Ausbildung und Anerkennung von Diplomen bereitgestellt werden. Philipp Berger erwähnte, dass das SEM an der Entwicklung von Massnahmen arbeite, um das Ziel einer 40-prozentigen Beschäftigung zu erreichen, und er zeigte sich zuversichtlich, dass die Entwicklung dieser Massnahmen auch anderen Flüchtlingsgruppen zugutekommen kann. Daniella Lützelschwab betrachtete die Erreichung dieses Ziels als sehr ehrgeizig, insbesondere aufgrund der Schwierigkeiten der Unternehmen, herauszufinden, wo und wie sie ukrainische Flüchtlinge einstellen könnten. Andrej Lushnycky hingegen sah darin eine symbolische Botschaft der Politik, die zeige, dass man bereit sei, ukrainische Flüchtlinge bei ihrer Integration zu unterstützen. Er fügte jedoch hinzu, dass dieses Ziel nur für einen Teil dieser Gruppe gelten könne, ältere Menschen und Personen in der Ausbildung seien nicht darunter.

Wie können Hindernisse wie die Anerkennung von Abschlüssen, der Erwerb von Sprachkenntnissen und das ‘Matching’ mit verfügbaren Arbeitsplätzen überwunden werden?

Andrej Lushnycky plädierte für einen flexibleren Ansatz bei der Anerkennung von Abschlüssen und der Validierung von Kompetenzen und wies auf die Unterschiede zwischen dem ukrainischen und dem schweizerischen Bildungssystem hin – “in der Schweiz braucht man sogar für Freiwilligenarbeit einen Abschluss”, betonte er. Daniella Lützelschwab schlug eine enge Zusammenarbeit mit den Branchenverbänden vor, um den Prozess des ‘Matching’ und der Anerkennung von Kompetenzen zu standardisieren. In diesem Zusammenhang erwähnte Isabelle Moret das Beispiel des Projekts zwischen dem Kanton Waadt und GastroVaud, das auf der Schaffung spezifischer, kurzer Schulungen für die betreffende Branche basiert, um den unmittelbaren Bedarf an Arbeitskräften zu decken.

Welche Strategien können angewendet werden, um die Integration und die Beschäftigungsquote von ukrainischen Flüchtlingen sowohl kurz- als auch langfristig zu verbessern?

Als Antwort auf diese Frage schlug Andrej Lushnycky sogenannte Inkubationsprogramme zur Förderung des Unternehmertums unter ukrainischen Flüchtlingen vor und betonte, wie wichtig es sei, über Massnahmen nachzudenken, die kurz- und mittelfristig in der Schweiz wie auch langfristig in der Ukraine im Falle einer Rückkehr von Nutzen sein könnten. Philipp Berger bestätigte das Interesse des Bundes an der Einführung von Programmen, z. B. Ausbildungsprogrammen, die sowohl im Ankunfts- als auch im Herkunftsland nützlich sein können. Daniella Lützelschwab betonte die Notwendigkeit zusätzlicher Informationen zur Unterstützung von Einstellungen, insbesondere über die Gültigkeitsdauer des Status S. Isabelle Moret hob ihrerseits die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Kinderbetreuung und dem Zugang zu Bildung hervor.

Insgesamt identifizierte das Panel mehrere Herausforderungen und potenzielle Lösungen zur Verbesserung der Integration ukrainischer Flüchtlinge in den Schweizer Arbeitsmarkt und betonte die Notwendigkeit eines ganzheitlichen und kooperativen Ansatzes, um diese Hindernisse zu überwinden. Die Diskussion betonte die Notwendigkeit, flexibel zu bleiben, Aus- oder Weiterbildungen zu unterstützten sowie die Anerkennung von Kompetenzen zu fördern, um eine erfolgreiche Integration zu gewährleisten.

Private Unterbringung 

Panel mit:

  • Oleksandra Tarkhanova, Postdoktorandin am Institut für Soziologie, Universität Neuchâtel
  • Bianca Schenk, Leiterin des Gastfamilienprojekts, Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH
  • Dominik Hangartner, Co-Direktor Immigration Policy Lab, ETH Zürich
  • Sophie Buchs, Direktorin Caritas Genf

Die private Unterbringung von Flüchtlingen ist ein komplexes Thema, das wichtige wissenschaftliche, politische und praktische Fragen aufwirft. Das Panel beleuchtete diese Fragen aus verschiedenen Blickwinkeln und diskutierte die Herausforderungen, Vorteile und Auswirkungen dieser Praxis.

Inwiefern ist die private Unterbringung aus soziologischer und politischer Sicht interessant?

Oleksandra Tarkhanova betonte die wichtige Bedeutung sozialer Netzwerke für den Integrationsprozess von Flüchtlingen. Für sie werden die wenigen Personen, die sie in der Schweiz kennen, zu wichtigen Ankerpunkten, und diese Verbindungen beeinflussen ihr tägliches Leben und ihre Anpassung an ihre neue Umgebung. Dominik Hangartner hob die Rolle der privaten Unterbringung bei der Entlastung des Asylsystems sowie bei der Stärkung der gesellschaftlichen Solidarität mit geflüchteten Menschen hervor. Mit seinem Team arbeitet er an einem Algorithmus, der das ‘Matching’ bei einer privaten Unterbringung zwischen Gastgebenden und untergebrachten Personen unterstützen soll.

Was sind die praktischen Erfahrungen und die daraus gewonnenen Lehren bei der privaten Unterbringung von Flüchtlingen?

Sophie Buchs berichtete über die Erfahrungen der Einführung der privaten Unterbringung in Genf, ein Projekt, das erstmals im Zusammenhang mit der Ankunft ukrainischer Flüchtlinge eingeführt wurde. Sie betonte die langfristigen Vorteile der privaten Unterbringung, insbesondere im Hinblick auf die soziale, sprachliche und berufliche Integration. Sophie Buchs sprach ebenfalls über die Verwendung von ‘Matching’-Algorithmen zwischen Flüchtlingen und Gastfamilien in Genf und erläuterte dabei die anfänglichen Herausforderungen, die in diesem Prozess auftraten, wie etwa weniger erfolgreiche ‘Matchings’, wenn die Auswahlkriterien unzureichend waren.  Bianca Schenk führte aus, dass sie dieselben Vorteile der privaten Unterbringung beobachtete, insbesondere deren Rolle bei der Schaffung sozialer Bindungen und der Sensibilisierung der Wohnbevölkerung für die Bedürfnisse von Flüchtlingen. Oleksandra Tarkhanova erklärte, wie diese Dynamiken auch in ihrer Studie beobachtet wurden, und vor allem, wie die Aufnahme bei Privatpersonen ein Gefühl der Sicherheit fördert. Trotz dieser ermutigenden Aspekte gebe es auch Herausforderungen, die mit der privaten Unterbringung einhergehen. Die Expert*innen betonten insbesondere die Wichtigkeit, ein gutes ‘Matching’ zu finden, die unterschiedlichen emotionalen Zustände sowohl der Gastgeber*innen als auch der untergebrachten Personen und die fehlende Unterstützung der Behörden in dieser Hinsicht sowie die sinkende Anzahl an Personen, die bereit sind, Flüchtlinge zu beherbergen, sobald eine akute ‘Krise’ vorüber ist. “Die Unterstützung der Behörden für die private Unterbringung mit einem professionellen Rahmen, sowie eine Qualitätssicherung” sind laut Bianca Schenk und den anderen Expert*innen absolut notwendig, damit dieses Unterbringungsmodell nachhaltig und erfolgreich sein kann.

Welche (politischen) Auswirkungen hat die private Unterbringung von Flüchtlingen und wie kann dieses Engagement aufrechterhalten werden?

Bianca Schenk und Sophie Buchs betonten, dass im Jahr 2022 die private Unterbringung von Flüchtlingen aus der Ukraine vor allem eine Frage der Dringlichkeit war. In der aktuellen Phase liegt der Schwerpunkt zunehmend auf der Unterbringung bei Gastfamilien als Mittel zur Integration, weshalb Familien und Einzelpersonen gefunden werden müssten, die bereit sind, sich entsprechend zu engagieren. “Eine erste Zeit, in der man sich sagt, ich nehme jemanden für drei Monate auf, kann hilfreich sein, um zu sehen, ob es funktioniert oder nicht”, sagte Sophie Buchs. Die Redner*innen wiesen auch darauf hin, dass diese generell positive Erfahrung mit der privaten Unterbringung als Vorbild für dessen Ausweitung auf weitere Flüchtlingsgruppen dienen könne. Dominik Hangartner betonte zudem, dass private Unterkünfte die Solidarität fördere und dazu beitrage, die regulären Aufnahmestrukturen zu entlasten. Alles in allem betonten die Redner*innen, wie wichtig es sei, das Engagement der Gastgebenden zu unterstützen, ohne dabei die positive Rolle zu vergessen, die die ukrainische Diaspora bei der Integration von Flüchtlingen spielen kann.

Zusammenfassend betonte dieses Panel die Bedeutung der privaten Unterbringung von Flüchtlingen sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus politischer Perspektive. Durch die Diskussion der praktischen Erfahrungen, der gewonnenen Erkenntnissen und der politischen Implikationen dieser Art der Unterbringung boten die Expert*innen einen differenzierten Einblick in die Herausforderungen und Chancen, die mit der Aufnahme von Flüchtlingen bei Privatpersonen verbunden sind. Es ist klar, dass die private Unterbringung eine entscheidende Rolle bei der Integration von Flüchtlingen spielen kann. Dies erfordert jedoch eine kontinuierliche Unterstützung, Professionalisierung und Sensibilisierung seitens der Behörden und der Gesellschaft als Ganzes.

Aktivierung des Status S: Bilanz und Lehren

Panel mit:

  • Cesla Amarelle, Professorin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Universität Neuchâtel
  • Anja Klug, Leiterin des UNHCR-Büros für die Schweiz und Liechtenstein
  • Claudio Martelli, Stellvertretender Direktor Staatssekretariat für Migration SEM

Die Podiumsdiskussion über die Aktivierung des Status S beleuchtete wichtige Aspekte und zog Lehren aus dieser erstmaligen Anwendung.

Was waren die ersten Eindrücke und Herausforderungen bei der Aktivierung des Status S?

Die Redneri*innen beschrieben zunächst ihre unterschiedlichen Reaktionen auf die erstmalige Aktivierung des Status S.. Cesla Amarelle zog Parallelen zu ähnlichen Situationen in der Vergangenheit, insbesondere die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien und die Reaktion der Schweiz darauf. Claudio Martelli sprach darüber, wie erstaunt er war als der die Bilder vom 24. Februar 2022 sah. Er  betonte, dass die Bundesverwaltung zwar verschiedene Szenarien in Betracht gezogen habe, die russische Aggression in der Ukraine sie jedoch überrascht habe. Er betonte, wie wichtig  eine schnellen Reaktion ist. Er wies auch auf   die Bedeutung des Status S für das Krisenmanagement hin, welches  insbesondere eine schnelle Mobilisierung der während der COVID-19-Pandemie eingerichteten Aufnahmeeinrichtungen ermöglichte. Anja Klug erinnerte sich an die Schaffung der EU-Richtlinie für den vorübergehenden Schutz, die, wie der Status S in der Schweiz, zuvor noch nie aktiviert worden waren. Erst mit deren Aktivierung sei deutlich geworden, wie nützlich dieses Instrument für solche Situationen ist.

Was sind die Vor- und Nachteile des Status S und welche Lehren können für die Zukunft gezogen werden?

Die Redner*innen identifizierten mehrere mit dem Status S verbundene Vor- und Nachteile. Einerseits betonten sie seinen unmittelbaren Nutzen zur Entlastung des Schweizer Asylsystems und der Gewährung des temporären Schutzes für Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen mussten. Claudio Martelli würdigte den Umstand, dass das Asylsystem, trotz der Aktivierung des Status S weiterhin funktionsfähig war, und anerkannte die Bemühungen der Kantone, Gemeinden und der Zivilgesellschaft. In Bezug auf die Grenzen des Status S sprach Cesla Amarelle von einem sehr ambivalenten juristischen Konstrukt, das Fragen der Diskriminierung aufwirft, insbesondere in Bezug auf andere Aufenthaltsstatus. Zu den weiteren angesprochenen Herausforderungen gehörten insbesondere die begrenzte (oder nicht klar definierte) Aufenthaltsdauer und die mehrdeutige Botschaft hinsichtlich der Integration der Personen mit Status S. Tatsächlich war dieser Status für eine (sehr) kurze Dauer vorgesehen, doch die aktuelle Situation stellt diese Befristung in Frage; es geht also darum, zu verstehen, wie die Integration von Flüchtlingen aus der Ukraine mit der Aussicht auf eine potenzielle Rückkehr in Einklang gebracht werden kann. “Die Inklusion von ukrainischen Flüchtlingen in das Schweizer System ist nicht nur für ihr Leben in der Schweiz wichtig. Die Erhaltung und Förderung der Handlungsfähigkeit (agency) ist auch für eine zukünftige Rückkehr sehr wichtig”, fasste Anja Klug die Ambivalenz des S-Status zusammen, mit der man sich heute auseinandersetzen muss.

Welche Auswirkungen hat der S-Status auf die (Zukunft der) Schweizer Asylpolitik?

Cesla Amarelle betonte die Notwendigkeit eines umfassenderen und langfristigen Ansatzes in der Schweizer Asylpolitik, um eine kohärente Schutzarchitektur zu entwickeln und so die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, wie etwa die langsame Integration von Flüchtlingen mit Status F in den Schweizer Arbeitsmarkt. Anja Klug forderte zudem eine Harmonisierung der verschiedenen Formen des Flüchtlingsschutzes und die Schaffung einer Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Status. Sie plädierte ebenso dafür, Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen, den Flüchtlingsstatus zu gewähren. Dies sei möglich, wenn man die Genfer Flüchtlingskonvention weniger restriktiv und nach dem Schutzinteresse auslege. Claudio Martelli betonte, dass die Revision des Asylgesetzes von 2019 sowie die Einführung der Schweizer Integrationsagenda das Schweizer Asylsystem stabil genug gemacht hätten, um Situationen wie die Aktivierung des Status S gut bewältigen zu können.

Insgesamt betonte das Panel die Notwendigkeit einer flexiblen und kohärenten Herangehensweise, um  den Herausforderungen von Flüchtlingen zu begegnen. Es gilt, aus vergangenen Erfahrungen zu lernen und eine ganzheitlichere Perspektive für die Zukunft der Asylpolitik in der Schweiz anzunehmen.

Die französische Version dieser Zusammenfassung der Dialogveranstaltung finden Sie hier.

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