Argumentarium zur Motion «Für eine kohärente Gesetzgebung zu Sans-Papiers»

15.03.2018 , in ((Politik, Sans-Papiers)) , ((Keine Kommentare))

Die am 26. Januar 2018 durch die Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats eingereichte Motion greift unter dem Deckmantel der Forderung nach einer kohärenten Gesetzgebung zu «Sans-Papiers» die Grund- und Menschenrechte von bis zu 100’000 in der Schweiz lebenden Menschen an. Eine Umsetzung derselben wäre zudem mit erhöhten Kosten für das Gemeinwesen (Bund, Kantone und Gemeinden) sowie die Steuerzahlenden verbunden. Dies ohne ersichtlichen Vorteil für irgendjemanden.

Die in der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) sowie in etlichen von der Schweiz ratifizierten internationalen Abkommen verankerten Grund- und Menschenrechte stehen allen in der Schweiz lebenden Menschen zu, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrem ausländerrechtlichen Status. Dazu gehören auch das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 9 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Pakt I)), das Recht auf Gesundheit (Art. 12 BV; Art. 12 Abs. 1 UN-Pakt I), das Recht auf Bildung (Art. 19 und Art. 62 Abs. 2 BV; Art. 13 UN-Pakt I; Art. 2 und Art. 28 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (KRK)) sowie der Schutz von Kindern und Jugendlichen (Art. 3 KRK), die alle mit der eingereichten Motion angegriffen werden. Dies obwohl klar ist, dass die international verankerten Menschenrechte höher zu gewichten sind als ein Verstoss gegen das nationale Ausländergesetz (AuG), – eine Tatsache, die sich direkt aus der geltenden Normhierarchie (Vorrang des Völkerrechts) ableiten lässt. Welche grundlegenden Argumente sprechen gegen die einzelnen Vorschläge der Motion?

Beschränkung der Rechtsansprüche auf und aus Sozialversicherungen (namentlich AHV und Krankenversicherung) auf Personen mit geregeltem Aufenthaltsstatus

Der Ausschluss von arbeitstätigen «Sans-Papiers» aus den Sozialversicherungen (s. betreffend Krankenkasse unten) wiederspricht dem öffentlichen Interesse am Arbeitnehmer*innenschutz sowie an funktionierenden Sozialwerken. Arbeitstätige «Sans-Papiers» sind nach geltendem Recht, wie alle Arbeitnehmer*innen, verpflichtet den obligatorischen Sozialversicherungen beizutreten und Beiträge einzuzahlen (Art. 1a des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG); Art. 1b des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG); Art. 1a des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung (UVG); Art. 2 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG)). Einerseits erhalten sie damit den notwendigen sozialen Schutz (vgl. Art. 9 UN-Pakt I), andererseits werden dadurch – auch durch ihre Beiträge – die Einnahmen sowie die Funktionsfähigkeit der Sozialwerke gesichert. Ein Ausschluss von arbeitstätigen «Sans-Papiers» aus dem Versicherungsobligatorium würde die betroffenen Personen weiter in die Illegalität drängen und gleichzeitig die Attraktivität von Schwarzarbeit fördern, da die Arbeitgeber*innen von «Sans-Papiers» keine Sozialversicherungsbeiträge mehr bezahlen und bei einer Kontrolle auch nicht mit rückwirkenden Erhebungen rechnen müssten. Nichtversicherte Kosten müssten unter diesen Umständen – wie dies u.a. auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 21. Februar 2018 festhält – vom Gemeinwesen getragen werden.

Sicherstellung der Versorgung von «Sans-Papiers» im Krankheitsfall durch eine staatlich finanzierte Anlaufstelle

Der Ausschluss von «Sans-Papiers» aus dem sozialen Krankenversicherungssystem – das auf dem Grundsatz beruht, dass alle in der Schweiz lebenden Personen Prämien bezahlen, um so die Gesundheitsversorgung für alle, die sie benötigen, gewährleisten zu können – wiederspricht dem öffentlichen Interesse an einer Gesundheitsversorgung für alle. «Sans-Papiers» steuern mit dem Abschluss einer Krankenversicherung ihren Teil an die Kosten bei. Zudem gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass «Sans-Papiers» besonders viele Leistungen beziehen – vielmehr wird davon ausgegangen, dass sie in aller Regel nur selten einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen. Es ist aus diesem Grund nicht nachvollziehbar, warum gerade diese Bevölkerungsgruppe eine staatlich organisierte Parallelmedizin erhalten sollte. Würden «Sans-Papiers» vom sozialen Krankenversicherungssystem ausgeschlossen, müssten sich der Bund und die Kantone dafür einsetzten, dass sie die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhalten (Art. 41 Abs. 1 lit. b und Art. 117a Abs. 1 BV). Der Aufbau eines Parallelmedizinsystems für bis zu 100’000 Personen wäre mit immensen Kosten und Aufwand verbunden, was u.a. auch zu einer merklichen Mehrbelastung für die Steuerzahlenden führen dürfte. Da «Sans-Papiers» den Kontakt mit staatlichen Behörden, die im Kontakt mit den Migrationsbehörden stehen, normalerweise meiden, würde der Aufbau einer staatlich finanzierten Anlaufstelle zudem mit grösster Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass diese Arztbesuche hinauszögern oder wenn immer möglich vermeiden. Dies wiederspricht dem Ziel, allen in der Schweiz lebenden Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung zu gewährleisten, diametral.

Dazu der Blog-Beitrag: Würden «Sans-Papiers» für eine kohärente Gesundheitspolitik stimmen? von Denise Efionayi-Mäder

Verschärfung der Strafnormen für Arbeitgeber*innen, Arbeitsvermittler*innen und Vermieter*innen von «Sans-Papiers»

Die genannten Strafbestimmungen wurden mit dem Inkrafttreten des AuG am 1. Januar 2008 bereits deutlich verschärft (Art. 116 und 117 AuG). Zudem liegt das Problem – gemäss den Strafverfolgungsbehörden – nicht in der Höhe der Strafen, sondern beim Aufdecken und zur Anzeige bringen der Straftaten. Diesbezüglich enthält die Motion jedoch keinerlei Änderungsvorschläge. Um diesen Schwierigkeiten entgegenzuwirken, sieht das Bundesgesetz gegen die Schwarzarbeit (BGSA) zudem bereits umfassende Meldepflichten für die zuständigen Behörden vor (Art. 11 BGSA), die im Rahmen der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Revision auf einen weiteren Behördenkreis erweitert wurden. Es ist folglich kein Handlungsbedarf im Sinne der Motion ersichtlich.

Dazu der Blog-Beitrag: « Sans-papiers » et lutte contre le « travail au noir » von Didier Leyvraz

Erleichterung des Datenaustausches zwischen staatlichen Stellen betreffend Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus (bspw. für Schulbesuche und individuelle Förderung)

Daten werden bereits heute zwischen einer Vielzahl staatlicher Stellen ausgetauscht. Die Tatsache, dass dies noch nicht in allen Bereichen so ist, lässt sich auf den damit verbunden unverhältnismässigen Aufwand sowie auf den Schutz der Grundrechte (vgl. oben) zurückführen. Eine weitere Erleichterung des Datenaustausches würde – wie im Argumentarium der Nationalen Plattform zu den Sans-Papiers festgehalten – die Zahl der in der Schweiz anwesenden Personen ohne rechtmässigen Aufenthalt nicht verkleinern, sondern die Zahl an Personen vergrössern, die keinen Zugang zu den ihnen zustehenden Grund- und Menschenrechten haben. Eine Erleichterung des Datenaustausches im Schulwesen würde sowohl das Kindeswohl (Art. 3 KRK) als auch das Recht auf Bildung (Art. 13 UN-Pakt I; Art. 2 und Art. 28 KRK) gefährden. Mit der Einführung einer Meldepflicht für Schulbehörden würde mit anderen Worten in Kauf genommen, dass in der Schweiz wieder Kinder leben, die nicht eingeschult werden. Abgesehen von den bereits genannten Rechtsgrundlagen, wiederspricht dies auch Art. 19 und Art. 62 Abs. 2 BV, die festhalten, dass der Grundschulunterricht für alle in der Schweiz lebenden Kinder – und somit auch für «Sans-Papiers» im schulpflichtigen Alter – obligatorisch ist (vgl. für weitergehende Ausführungen die Medienmitteilung des VPOD sowie das Schreiben der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren).

Dazu der Blog-Beitrag: «Sans-Papiers»: Meldepflicht für Schulbehörden? von Stefanie Kurt

Konkretisierung der Härtefallkriterien für langjährig anwesende, «integrierte» «Sans-Papiers», insbesondere für Familien mit Kindern in Ausbildung

Eine Konkretisierung der Härtefallkriterien auf gesamtschweizerischer Ebene ist durchaus wünschenswert. Die Operation Papyrus in Genf zeigt auf, wie eine solche aussehen könnte, wobei im Rahmen der Genfer Regelung für Familien mit Kindern in Ausbildung bereits spezifische Bedingungen vorgesehen sind. Was für einen Mehrwert die vorliegende Motion diesbezüglich mit sich bringt, ist hingegen nicht ersichtlich. Dies umso weniger, wenn berücksichtigt wird, dass die Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE), die in Art. 31 die Kriterien für den schwerwiegenden persönlichen Härtefall regelt, aufgrund der Teilrevision des AuG aktuell bereits in der Vernehmlassung ist. Gemäss dem erläuternden Bericht sind u.a. auch Änderungen vorgesehen, die einen Einfluss auf die Härtefallregelung hätten – namentlich wird verlangt, dass Ausländer*innen neu die Integrationskriterien im Sinne von Art. 58a Abs. 1 des zukünftigen Ausländer*innen und Integrationsgesetzes (nAIG) erfüllen müssen, damit eine Härtefallregelung in Frage kommt.

Dazu die Blog-Beiträge: Integriert ist wer… von Stefanie Kurt, Ist Integration der einzige Faktor, der in Härtefällen bei Kindern zu berücksichtigen ist? von Jyothi Kanics und Opération Papyrus – un bilan à mi-parcours von Lucia Della Torre

Abschliessendes Votum

Die Motion gefährdet die Grund- und Menschenrechte von etlichen in der Schweiz lebenden Menschen und führt zu immensen Kosten sowohl für das Gemeinwesen als auch die Steuerzahlenden ‒ dies ohne dabei für irgendjemanden klar ersichtliche Vorteile zu bringen. Wäre es demzufolge nicht besser, diese Motion abzulehnen?

Weitere Informationen sowie eine umfassendere Auseinandersetzung mit den einzelnen Vorschlägen der Motion finden sich im Argumentarium der Nationalen Plattform zu den Sans-Papiers.

Alexandra Büchler
Wissenschaftliche Assistentin und Doktorandin, Universität Bern
Co-Präsidentin des Vereins Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers

 

Sans-Papiers in der Schweiz
Die Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats reichte am 26. Januar 2018 eine Motion ein, die eine kohärente Gesetzgebung zu «Sans-Papiers» fordert. Darin fordert sie unter anderen eine Zugangseinschränkung zu Sozialversicherungen, eine staatlich finanzierte Anlaufstelle im Krankheitsfall, verschärfte Strafverfolgung von Arbeitgeber*innen, Arbeitsvermittler*innen und Vermieter*innen von «Sans-Papiers», einen erleichterten Datenaustausch zwischen staatlichen Stellen sowie die Konkretisierung der Härtefallkriterien. Die Blog-Serie greift gewisse Elemente der Motion auf und diskutiert diese im Kontext von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Motion wurde am 18. Mai 2018 zurückgezogen.

Print Friendly, PDF & Email