Freizügigkeit für Flüchtlinge in Europa – Neustart in der EU-Flüchtlingspolitik
Im seinem Jahresgutachten 2017 unterbreitet der deutsche Sachverständigenrat für Integration und Migration Vorschläge, die für eine Weiterentwicklung der EU-Flüchtlingspolitik plädieren. Darin wird ein Stufenmodell vorgestellt, das anerkannten Flüchtlingen EU-weite Freizügigkeitsrechte garantieren soll – ein Baustein in der fairen Teilung der Verantwortung in der EU. Ebenso spielt die Integration von Flüchtlingen eine wichtige Rolle, insbesondere ein schneller Zugang zu Bildung und flexible Ausbildungsmodelle.
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) sieht die Krise als Chance und fordert einen Neustart in der EU-Flüchtlingspolitik. Zwei der grössten Herausforderungen für die EU bleiben, die Konstruktionsfehler des Dublin-Abkommens zu beheben und die in grosser Zahl angekommenen Flüchtlinge zu integrieren. Das diesjährige Jahresgutachten des SVR untersucht die Fortschritte und den Handlungsbedarf in der europäischen Migrationspolitik. Eine reine Krisenperspektive wird dabei vermieden; der Blick auf die Chancen gerichtet, die sich aus der Krise ergeben. Zentrale Forderung im Gutachten ist «mehr Europa und ein anderes Europa zugleich».
Der Sachverständigenrat plädiert zwar für die Beibehaltung des Dublin-Verfahrens, demzufolge grundsätzlich der Staat der Ersteinreise für das Asylverfahren zuständig ist. Hingegen solle dies um einen Mechanismus zur Verantwortungsteilung ergänzt werden. Die Staaten an den EU-Aussengrenzen, die aufgrund ihrer geografischen Lage besonders gefordert seien, dürften nicht alleine gelassen werden.
Für die Asylverfahren und die Rückführung abgelehnter Asylsuchenden sollten weiterhin die Staaten an den EU-Aussengrenzen zuständig sein, allerdings mit Unterstützung der EU und der Grenzschutzagentur Frontex. Der Beitrag der Staaten in Nord- und Westeuropa wäre demgegenüber eine schrittweise Öffnung ihrer Arbeitsmärkte für anerkannte Flüchtlinge.
Bei der Freizügigkeit von Flüchtlingen in Europa schlägt der Sachverständigenrat vor, zumindest die EU-Richtlinien zur Arbeitsmigration für anerkannte Flüchtlinge zu öffnen – beispielsweise für Saisonarbeitende oder Hochqualifizierte. Die Mobilitätsrechte anerkannter Flüchtlinge sollten tendenziell an die der Unionsbürger und Unionsbürgerinnen angeglichen werden.
Darüber hinaus spricht sich der Sachverständigenrat für eine gemeinsame Liste sicherer Herkunftsländer aus. Eine solche EU-weite Liste würde die Rolle der EU stärken und eine Gleichbehandlung von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten fördern. Im Bereich der Rückführung könnte die EU bessere Ergebnisse erzielen, wenn sie bei Verhandlungen mit den Herkunftsländern mit einer Stimme sprechen würde – sowohl bei der Rückkehr als auch bei Abschiebungen.
Das Jahresgutachten warnt auch davor, in Deutschland – das während der «Krise» 890’000 Flüchtlinge aufgenommen hat – die Integrationsinfrastruktur zu vernachlässigen. Das Gutachten lehnt Sonderprogramme für Flüchtlinge ab und befürwortet die Nutzung vorhandener Regelstrukturen. Das bedeutet insbesondere, dass Schülerinnen und Schüler so bald wie möglich in regulären Schulklassen unterrichtet werden sollten. Ebenso sollten für die Berufsausbildung, die Nachqualifizierung und die Arbeitsmarktintegration die bewährten Instrumente der Arbeitsmarktpolitik genutzt werden. Wo notwendig, sollte die Flüchtlingszuwanderung dazu genutzt werden, in den Regelstrukturen sinnvolle Reformen anzugehen. Davon hätten alle etwas, folgert das Gutachten. Eine gelingende Integration erfordere aber auch eine entsprechende Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft. Hier gelte es deutlich zu machen, dass die Aufnahme von Menschen in Not ein Gebot der Menschlichkeit ist.
Während die deutsche Presse mit Blick auf den anstehenden Wahlkampf insbesondere die europapolitischen Vorschläge aufgenommen hat, fokussierten Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft bei einer SVR-Veranstaltung im Anschluss an die Präsentation des Jahresgutachtens vor allem auf die Frage der Integration. Eine bekannte Politikerin beklagte, dass in diesem Bereich noch viel zu wenig gemacht werde. Viele Wortmeldungen stimmten dem zu. Das Engagement ist bemerkenswert, insbesondere wenn man bedenkt, wie viele europäische Staaten Flüchtlinge gar nicht aufnehmen und alles unternehmen, damit sich Flüchtlinge nicht heimisch fühlen. Es ist sicherlich die Leistung einer aktiven Zivilgesellschaft, eine als Krise benannte Aufnahme als Chance zu deuten. Für diese bietet das Gutachten Material für die anstehenden Debatten.
Gianni D’Amato
Direktor und Projektleiter nccr – on the move, Universität Neuenburg
Mitglied des SVR
Zur Vertiefung: Die neun Kernbotschaften des Jahresgutachtens 2017