Ist Integration der einzige Faktor, der in Härtefällen bei Kindern zu berücksichtigen ist?

08.03.2018 , in ((Politik, Sans-Papiers)) , ((Keine Kommentare))

Die Motion «Für eine kohärente Gesetzgebung zu Sans-Papiers» verlangt eine Konkretisierung der Kriterien für die Prüfung von Härtefällen von Migrant*innen ohne geregelten Aufenthaltsstatus, die lange in der Schweiz gelebt und sich «integriert» haben – hier im speziellen Familien mit eingeschulten Kindern. Doch: Ist Integration der einzige Faktor, der in solchen Fällen berücksichtigt werden soll, besonders dann, wenn Kinder betroffen sind?

Eine Gelegenheit, die Kinderrechte und den Grundsatz des übergeordneten Kindesinteresses in den Mittelpunkt zu stellen

Die Debatte anlässlich dieser Motion macht es möglich, sich nicht nur erneut auf die Integrationsfrage zu konzentrieren, die schon sehr genau abgehandelt wurde, sondern endlich auch den Grundsatz des übergeordneten Kindesinteressesbest interests of the child», «l’intérêt supérieur de l’enfant», oft [und auch hier in der Folge] kurz «Kindeswohl») im schweizerischen Migrationsrecht einzubinden. Das Kindeswohl ist ein Schlüsselprinzip der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (KRK), die in der Schweiz von der Regierung im Februar 1997 ratifiziert worden und am 26. März 1997 in Kraft getreten ist. Nach der KRK [Artikel 3 Absatz 1] ist «[b]ei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, […] das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.»

In der Botschaft zur Ratifizierung der KRK anerkannte der Bundesrat damals, dass der Grundsatz des übergeordneten Kindeswohls auf alle schweizerischen Gesetze, die Kinder betreffen, anzuwenden ist, und dass er umfassender zu verstehen ist als der entsprechende, damals geltende Begriff in der schweizerischen Gesetzgebung. Zusätzlich betonte der Bundesrat, dass die KRK nach der Ratifizierung eine der Leitlinien für die Interpretation des Kindeswohls in der Schweiz sein sollte. Gesetzgeber und Praxis sollten den Grundsatz anwenden, um ihm mehr Aufmerksamkeit zu verleihen. Seit der Ratifizierung der KRK vor über 20 Jahren kam es daher zu bedeutsamen Änderungen in ausgewählten Gebieten des Schweizer Rechts, z.B. im Zivilgesetzbuch betreffend des Anhörungsrechts eines Kindes und der Berücksichtigung des Kindeswohls. Im schweizerischen Migrationsrecht hat der Grundsatz des übergeordneten Kindesinteresses jedoch bisher nur wenig Eingang gefunden. Der Schweizer Gesetzgeber hat nun bei der Behandlung der Motion die Gelegenheit, sicherzustellen, dass das Kindeswohl in der zukünftigen Gesetzgebung und Weisungen zur Umsetzung im Bereich der Regularisierung von «Sans-Papiers» vorrangig berücksichtigt wird.

Neue verbindliche Leitlinien zum Grundsatz des Kindeswohls im Regularisierungsprozess

Der Schweizer Gesetzgeber kann sich zur Frage, wie das Kindeswohl für Kinder im Migrationskontext angewandt werden soll, an neuen verbindlichen Leitlinien orientieren. Im November 2017 haben zwei Gremien der Vereinten Nationen – der Ausschuss für die Rechte des Kindes (Kinderrechtsausschuss) und der Ausschuss zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer*innen und ihrer Familienangehörigen – zwei neue gemeinsame «General Comments» zu den allgemeinen Prinzipien und Pflichten der Staaten betreffend der Menschenrechte von Kindern im Kontext von internationaler Migration beschlossen. Diese bauen auf die schon im Mai 2013 vom Kinderrechtsausschuss veröffentlichten Leitlinien zum Kindeswohl auf und ergänzen diese.

Die Ausschüsse anerkennen in ihren neuen «General Comments» den negativen Effekt, den der unsichere und prekäre Migrationsstatus auf das Wohlergehen der Kinder von «Sans-Papiers» haben kann. Aus diesem Grund empfehlen sie den Staaten, sicherzustellen, dass es klare und gangbare Vorgehensweisen gibt, um den Status von Kindern zu regularisieren – dies aus verschiedenen Gründen, so etwa Länge des Aufenthalts. Diesbezüglich ist die Operation Papyrus in Genf ein pragmatischer Schritt in die richtige Richtung.

Die Ausschüsse betonen auch, dass das Kindeswohl berücksichtigt werden soll, wenn Staaten sich mit der Situation von Migrant*innen ohne geregelten Aufenthaltsstatus beschäftigen, insbesondere bei der Umsetzung von Regularisierungsmechanismen. Innerhalb solcher Mechanismen ist es notwendig, ein «Verfahren zur Bestimmung des Kindeswohls» («Best Interests Determination») durchzuführen – denn eine diesbezügliche Entscheidung wird höchstwahrscheinlich grundlegende Langzeiteffekte für das betroffene Kind und die Wahrung seiner Rechte in der Zukunft haben. Mit diesem Ziel vor Augen legen die Ausschüsse den Staaten nahe, einen Mechanismus zur «Bestimmung des Kindeswohls» zu schaffen, der darauf zielt, sichere und nachhaltige Lösungen sowohl für unbegleitete Kinder als auch Kinder in Familien zu identifizieren und umzusetzen. Solche Lösungen müssen auf das langfristige Kindeswohl und die Fürsorge zugeschnitten sein, indem sie sicherstellen, dass dem Kind ermöglicht wird, sich bis ins Erwachsenenalter gut zu entwickeln: in einem Umfeld, das seinen Bedürfnissen entspricht und seine in der KRK definierten Rechte gewährleistet.

Integration ist aufgrund des Gesagten nicht der einzige Faktor, der bei der Beurteilung von Härtefällen berücksichtigt werden sollte. Für die zukünftige Gesetzgebung und deren Umsetzungsmassnahmen im Bereich der Regularisierung von «Sans-Papiers» in der Schweiz muss das Kindeswohl vorrangig berücksichtigt werden.

Jyothi Kanics
Doktorandin, nccr – on the move, Universität Luzern

 

Sans-Papiers in der Schweiz
Die Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats reichte am 26. Januar 2018 eine Motion ein, die eine kohärente Gesetzgebung zu «Sans-Papiers» fordert. Darin fordert sie unter anderen eine Zugangseinschränkung zu Sozialversicherungen, eine staatlich finanzierte Anlaufstelle im Krankheitsfall, verschärfte Strafverfolgung von Arbeitgeber*innen, Arbeitsvermittler*innen und Vermieter*innen von «Sans-Papiers», einen erleichterten Datenaustausch zwischen staatlichen Stellen sowie die Konkretisierung der Härtefallkriterien. Die Blog-Serie greift gewisse Elemente der Motion auf und diskutiert diese im Kontext von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Motion wurde am 18. Mai 2018 zurückgezogen.

 

Referenzen

United Nations Committee on the Rights of the Child, General comment No. 14 on the right of the child to have his or her best interests taken as a primary consideration (art. 3, para. 1), 29 May 2013, CRC /C/GC/14 (also includes link to French version).

Joint general comment No. 3 of the Committee on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families and No. 22 of the Committee on the Rights of the Child on the general principles regarding the human rights of children in the context of international migration, 16 November 2017, CMW/C/GC/3-CRC/C/GC/22 (also includes link to French version).

Joint general comment No. 4 of the Committee on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families and No. 23 of the Committee on the Rights of the Child on State obligations regarding the human rights of children in the context of international migration in countries of origin, transit, destination and return, 16 November 2017, CMW/C/GC/4-CRC/C/GC/23 (also includes link to French version).

Safe & Sound: What States can do to ensure respect for the best interests of unaccompanied and separated children in Europe, October 2014.

Safe & Sound: Welche Maßnahmen Staaten ergreifen können, um das Kindeswohl von unbegleiteten Kindern in Europa zu gewährleisten, October 2014.

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