Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund erwarten gegenseitige Integration in der Schule

21.09.2022 , in ((Ungleichheiten überwinden)) , ((Keine Kommentare))

Durch weltweite Migrationsbewegungen entsteht nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Schulkontext eine kulturelle Heterogenität. Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund treffen in der Schule somit auf Mitschüler*innen, welche unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben. Neuste Forschungsresultate zeigen auf, dass Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund die gemeinsame Integration bevorzugen und von Schulen erwarten, dass sie den interkulturellen Kontakt und Austausch fördern.

Veränderungen und Anpassungen, die Individuen und Gruppen aufgrund interkultureller Kontakte durchlaufen, werden unter dem Begriff der Akkulturation erfasst (Berry, 2019). Bisher wurde in erster Linie erforscht, welche Einstellungen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund über die Akkulturation von Gruppen oder Individuen mit Migrationshintergrund haben.

Dabei wurden zwei Dimensionen untersucht (Bourhis et al., 1997): ob migrierte Personen (1) eine herkunftsbezogene kulturelle Orientierung behalten und/oder (2) ihre kulturelle Orientierung an der Mehrheitsgesellschaft ausrichten. Durch die Kombination dieser zwei Dimensionen ergeben sich vier Akkulturationsstrategien: Integration (Zustimmung zu 1 und 2), Assimilation (Ablehnung von 1 und Zustimmung zu 2), Separation (Zustimmung zu 1 und Ablehnung von 2) und Marginalisierung (Ablehnung von 1 und 2).

Akkulturationseinstellungen werden oft im Zusammenhang mit soziokulturellen oder psychologischen Anpassungen erforscht. Die Integrationshypothese geht davon aus, dass eine Integrationsstrategie zur besten Anpassung führt.

Von der einseitigen zur gegenseitigen Akkulturation

Der bisherige Fokus auf Migrant*innen ist aber einseitig, da auch Menschen ohne Migrationshintergrund interkulturellen Kontakt haben und ihre Orientierungen verändern und anpassen können.

Die neuste Forschung untersucht daher Akkulturationseinstellungen und Anpassungen von Personen mit und ohne Migrationshintergrund (Sidler et al., 2021). Von Interesse dabei sind sowohl Akkulturationserwartungen (beispielsweise, wenn in der Mehrheitsgesellschaft die Erwartung vorherrscht, dass Migrant*innen die lokale Sprache erlernen) als auch Akkulturationsorientierungen (beispielsweise, wenn sich Traditionen von Migrant*innen in der Mehrheitsgesellschaft etablieren).

Wer hat nun einen Migrationshintergrund?

Die Kategorie Migrationshintergrund wird je nach Land unterschiedlich definiert. In der Schweiz umfasst diese «Personen ausländischer Staatsangehörigkeit und eingebürgerte Schweizerinnen und Schweizer – mit Ausnahme der in der Schweiz Geborenen mit Eltern, die beide in der Schweiz geboren wurden – sowie die gebürtigen Schweizerinnen und Schweizer mit Eltern, die beide im Ausland geboren wurden». Problematisch an dieser Kategorisierung ist, dass sie weder nach Migrationsgeneration, Migrationsstatus oder Herkunftsort differenziert (Nauck & Genoni, 2019) noch die Selbstidentifikation der Betroffenen berücksichtigt (Horvath, 2019).

Neuste Forschungsergebnisse aus Deutschland, Griechenland und der Schweiz

Wir haben Einstellungen zur gegenseitigen Akkulturation und deren Zusammenhang mit psychologischen Anpassungen von Schüler*innen in Sekundarschulen in Deutschland, Griechenland und der Schweiz erforscht (Sidler et al., 2022). Vier Dimensionen dieser Einstellungen zur gegenseitigen Akkulturation wurden erfasst: ob Jugendliche mit Migrationshintergrund (1) eine herkunftsbezogene kulturelle Orientierung beibehalten dürfen, (2) ob sie sich an die lokalen kulturellen Gegebenheiten anpassen sollen, (3) ob Deutsche / Griechische / Schweizerische Jugendliche die kulturellen Hintergründe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund kennenlernen sollen und (4) ob Schulen in Deutschland / Griechenland / der Schweiz den interkulturellen Kontakt und Austausch fördern sollen.

Akkulturationsmuster wurden in jedem Land für Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund analysiert. Die Jugendlichen wurden aufgrund ihrer Angaben zu ihrer Nationalität sowie ihrem Geburtsort und jenem ihrer Eltern in eine der Kategorien eingeteilt. Kein Migrationshintergrund besitzt in dieser Studie, wer die lokale Nationalität hat und selbst inklusive beider Eltern im jeweiligen Land geboren wurde. Während die oben erwähnten Nachteile auch auf diese Kategorisierung zutreffen, bezieht sie mit dem Kriterium der Nationalität gesellschaftliche Machtpraktiken mit ein (Connell, 1998) und unterscheidet zwischen jenen die bezüglich ihrer politischen Rechte zur dominanten Mehrheitsgesellschaft gehören oder eben nicht.

Die entdeckten Akkulturations-Profile wurden in einem zweiten Schritt mit dem Selbstwert (ob sie sich als liebenswert und wertvoll bezeichnen) und der Selbstdetermination (ob sie sich als kompetent, sozial eingebettet und autonom empfinden) der Jugendlichen verglichen.

Jugendliche wünschen sich gegenseitige Integration

Für Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund wurden in allen drei Ländern drei Akkulturationsprofile gefunden. Das erste Profil starke gegenseitige Integration zeichnet sich durch eine hohe Zustimmung zu allen vier Akkulturationsdimensionen aus. Das zweite Profil milde gegenseitige Integration weist eine hohe Zustimmung zur ersten Dimension (Jugendliche mit Migrationshintergrund dürfen eine herkunftsbezogene kulturelle Orientierung behalten) aus. Das dritte Profil tiefe Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft ist geprägt von einer starken Ablehnung der beiden Mehrheitsakkulturationsdimensionen und lehnt es somit ab, dass Deutsche / Griechische / Schweizerische Jugendliche die kulturellen Orientierungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund kennen lernen und die Schulen interkulturellen Kontakt und Austausch ermöglichen.

Die grössten Unterschiede zwischen den drei Profilen finden sich in Bezug zur Mehrheitsakkulturation. Dies könnte daher rühren, dass sich der Integrationsdiskurs normalerweise auf Menschen mit Migrationshintergrund bezieht und die gegenseitige Integration ein ungewohntes Konzept ist.

Trotz der drei sehr unterschiedlichen nationalen Kontexte sind sich die zwei Integrationsprofile von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund jedoch erstaunlich ähnlich. Insgesamt wünscht sich eine grosse Mehrheit (86% bis 94%) der in Deutschland, Griechenland und der Schweiz befragten Jugendlichen eine gegenseitige Integration und erwartet, dass sich die Schulen daran beteiligen und interkulturellen Kontakt und Austausch fördern. Unsere Forschungsergebnisse bestätigen zudem die Integrationshypothese: Je stärker Jugendliche den vier Dimensionen zustimmen und eine gegenseitige Integration befürworten, desto höher sind auch ihr Selbstwert und ihre Selbstdetermination.

Petra Sidler ist Doktorandin an der Université de Neuchâtel, an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und im nccr – on the move Projekt Overcoming Inequalities in the Labor Market: Can Educational Measures Strengthen the Agency and Resilience of Migrants, Refugees, and their Descendants?

Referenzen

–Berry, J. W. (2019). Acculturation: A personal journey across cultures. Cambridge University Press.
–Bourhis, R. Y., Moise, L. C., Perreault, S., & Senecal, S. (1997). Toward an interactive acculturation model:  A social psychological approach. International Journal of Psychology, 32(6), 369–386.
–Connell, R. W. (1998). Masculinities and globalization. Men and Masculinities, 1(1), 3–23.
–Horvath, K. (2019). Migration background–Statistical classification and the problem of implicitly ethnicising categorisation in educational contexts. Ethnicities, 19(3), 558–574.
–Nauck, B., & Genoni, A. (2019). Status transition in the educational system and well-being of migrant adolescents in cross-national comparison. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 22(1), 47–69.
–Sidler, P., Kassis, W., Makarova, E., & Janousch, C. (2021). Assessing attitudes toward mutual acculturation in multicultural schools: Conceptualisation and validation of a four-dimensional mutual  acculturation attitudes scale. International Journal of Intercultural Relations, 84, 300–314.
–Sidler, P., Baysu, G., Kassis, W., Janousch, C., Chouvati, R., Govaris, C., Graf, U., & Rietz, C. (2022). Minority and Majority Adolescents’ Attitudes toward Mutual Acculturation and its Association with Psychological AdjustmentJournal of Youth and Adolescence, 1-25.

 

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