‚Selbstbestimmungsinitiative‘, die Quintessenz aller SVP Initiativen
Die Volksinitiative ‚Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)‘, die am 25 November an die Urne kommt, ist in gewissem Sinne die Quintessenz aller Vorgänger-Initiativen der SVP. Ironischerweise hat sie aber herbeigeführt, was sie zu überwinden vorgibt – einen Sinneswandel des Bundesrates.
Das Institut der Volksinitiative hat einen fundamentalen Bedeutungswandel erfahren. Von einem Kampfinstrument für wenig etablierte Außenseiter in der Politik, ist sie zum zentralen, regelmäßig verwendeten und oft erfolgreichen Kampagnenvehikel großer Parteien geworden. Diese setzen Volksinitiativen ein, weil sie sich eignen, den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen und Themen für Wahlen zu setzen. Treiber dieser Entwicklung war und ist die Schweizerische Volkspartei (SVP). Die ‚Selbstbestimmungsinitiative‚ ist in gewissem Sinne die Quintessenz aller Vorgänger-Initiativen der SVP und ist daher auch grundsätzlicher und gefährlicher als alle ihre Vorläufer.
Die Erzählung vom stillen Staatsstreich
Bereits vor der Abstimmung kann die Initiative für sich aber die ironische Vorwirkung in Anspruch nehmen, dass sie herbeigeführt hat, was sie abzuschaffen vorgibt. Die Erzählung, die der Initiative zu Grunde liegt, ist nämlich die von einem stillen Staatsstreich. Während es bis in das Jahr 2012 selbstverständlich gewesen sei, dass die Verfassung völkerrechtlichen Verträgen vorgehe, hätten das Bundesgericht, die Regierung und die Verwaltung – und später, bei der Umsetzung der ‚Masseneinwanderungsintiative‘, sogar das Parlament – dieses Rangverhältnis umgekehrt, um Volksinitiativen nicht umsetzen und anwenden zu müssen, die ihnen unliebsam seien. Dieser Staatsstreich gegen die Souveränität des Souveräns müsse rückgängig gemacht werden. Diese Erzählung ist deshalb falsch, weil das Verhältnis zwischen Völkervertragsrecht und Verfassungsrecht – im Gegensatz zum Verhältnis von Völkervertragsrecht und Bundesgesetzesrecht – bis vor kurzem eine Frage von fast nur theoretischem Interesse war. Ein Bericht des Bundesrates hält dazu fest: “Weil Verfassungsbestimmungen meistens durch eine Ausführungsgesetzgebung konkretisiert werden, ist ein solcher Konflikt in der Praxis noch nicht vorgekommen, so dass es auch keine Rechtsprechung dazu gibt.”
Als das Bundesgericht 2012 mit der Frage konfrontiert war, ob in einem Konfliktfall die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) oder die ‚Ausschaffungsinitiative‘ in der Rechtsanwendung Vorrang habe, und 2015 dieselbe Frage in Bezug auf die ‚Masseneinwanderungsinitiative‘ und das Personenfreizügigkeitsabkommen beantworten musste, entschied es zwar in beiden Fällen für den Anwendungsvorrang des jeweiligen völkerrechtlichen Vertrages (BGE 139 I 16, E. 5.3 und BGE 142 II 35, E. 3.2). Es klammerten die Überlegungen zum Verhältnis von Verfassungsrecht und Völkerrecht aber in beiden Fällen in ein obiter dictum und achtete darauf, keine verallgemeinerbaren neuen Regeln zu schaffen. In früheren Entscheiden behandelte es den Anwendungsvorrang von völkerrechtlichen Verträgen vor der Verfassung auch schon als Selbstverständlichkeit, die sich aus der Verfassung selber eindeutig ergebe (BGE 133 II 450, E. 6 und E. 6.1).
Der Bundesrat durchlief – in Bezug auf die Frage des Vorranges in der Rechtsetzung – die von der SVP behauptete Wandlung sogar in der Gegenrichtung. In der Botschaft zur totalrevidierten Bundesverfassung hielt der Bundesrat noch fest, der Anwendungsvorrang sei im Konfliktfall zu Gunsten des Völkerrechts zu entscheiden (BBl 1997 I 1, S. 428f.). Ab 2010 bestand er dann aber mit einer gewissen Hartnäckigkeit darauf, die Annahme von völkerrechtswidrigen Volksinitiativen als Auftrag zur Kündigung der entsprechenden völkerrechtlichen Verträge entgegenzunehmen. In einem Bericht zum Thema hielt der Bundesrat fest: “Ist es das offensichtliche Ziel einer Initiative, gegen nicht zwingendes Völkerrecht zu verstoßen, oder kann die neue Verfassungsbestimmung nicht völkerrechtskonform umgesetzt werden, so vertritt der Bundesrat die Auffassung, dass die Annahme der Initiative durch Volk und Stände als Auftrag zur Kündigung der entgegenstehenden internationalen Verpflichtungen zu verstehen ist.” (S. 2319). An dieser Auffassung hielt der Bundesrat – entgegen der Erzählung der SVP und trotz steigendem Risiko einer Eskalation – fest (BBl 2011 3613, S. 3656; BBl 2013 291, S. 317; BBl 2013 9459, S. 9480f.; Antwort auf Interpellation 14.4249).
Die ‚Selbstbestimmungsinitiative‘ zwingt den Bundesrat seine Haltung anzupassen
Konfrontiert mit der ‚Selbstbestimmungsinitiative‘ konnte der Bundesrat nun aber nicht mehr anders, als von seiner seit 2010 gepflegten Position abzurücken. Zwar besteht er auch jetzt noch darauf, dass die Verfassung keinen “vorbehaltlosen Vorrang” des Völkerrechts vorsehe und spricht sich mehrfach gegen “starre Vorrangregeln” aus. Aber er verwirft explizit seine bisherige Annahme, eine völkerrechtswidrigen Volksinitiative enthielte einen Kündigungsauftrag bezüglich der Verträge, mit denen sie Konflikte verursacht (BBl 2017 5355, S. 5373). Hielte er an seiner bisherigen Haltung fest, wäre er dem Argument ausgesetzt, die ‚Selbstbestimmungsinitiative‘ fordere im Grunde nur, was der Bundesrat selber als seine Praxis bezeichnet habe, sich aber nicht umzusetzen getraue.
Seinen Gesinnungswandel stützt der Bundesrat auch auf das Verhalten des Parlaments, das die ‚Masseneinwanderungsintiative‘ nur soweit umgesetzt hatte, wie dies mit dem Völkerrecht vereinbar war. Zusätzlich mobilisiert er neu das Argument der Einheit der Materie. Dieses Argument hat in seinen früheren Äußerungen zu dem Thema nie eine Rolle gespielt. Es steht gerade im offensichtlichen Gegensatz zur früheren Haltung, die Annahme völkerrechtswidrige Volksinitiativen als “Auftrag zur Kündigung der entgegenstehenden internationalen Verpflichtungen zu verstehen”. Es muss daher diese jüngste Volksinitiative gewesen sein, die den Meinungsumschwung herbeigeführt hat.
Obwohl sie das Ergebnis eines langen Bedeutungswandels der Volksinitiative ist, hat die ‚Selbstbestimmungsinitiative‘ also gute Chancen, sehr traditionell zu wirken: Indem sie zwar an der Urne verloren geht aber dennoch die Haltung der Regierung, der Verwaltung, der Gerichte und sogar des Parlamentes nachhaltig beeinflusst. Nur halt in dem sie herbeiführt, was sie eigentlich überwinden wollte.
Dieser Beitrag ist eine aktualisierte und gekürzte Version eines Textes der am 9. Oktober 2017 auf dem Verfassungsblog erschienen ist. Stefan Schlegel ist auch in die politische Arbeit zu dieser Volksinitiative eingebunden.