Sexarbeit und Migrationspolitik: eine anhaltende Verflechtung

25.06.2025 , in ((Politik)) , ((Keine Kommentare))

Sexarbeit gilt in der Schweiz als Arbeit. Doch das wird hinterfragt. In einem Positionspapier stellen die Frauen der Mitte Partei insbesondere migrantische Sexarbeitende als Opfer dar. Sie wollen unter anderem Freier dazu verpflichten, den Aufenthaltsstatus von Sexarbeitenden zu kontrollieren. Sexarbeit und Migrationspolitik sind seit den 1990er Jahren eng verflochten. Auch der aktuelle neo-abolitionistische Trend stützt zunehmend etablierte Forderungen nach einer restriktiven Migrationspolitik.

In einem Positionspapier sprachen sich die Frauen der Mitte Partei im April 2025 für strengere Regeln für das Sexgewerbe aus. Die Mehrheit der Prostituierten, so argumentieren sie, seien Migrantinnen und daher besonders verletzlich, Opfer von Zwang und Ausbeutung zu werden. Die Mitte Frauen beabsichtigen unter anderem, Freier stärker in die Pflicht zu nehmen, zum Beispiel indem diese das Alter, Arbeitsumfeld, den Aufenthaltsstatus und die Arbeitsbewilligung von Sexarbeitenden kontrollieren müssen. Auffälligkeiten sollen die Sexkäufer der Polizei melden. Die Mitte prüft derzeit die Lancierung einer Volksinitiative, um ihre Forderungen durchzusetzen.

Dem Positionspapier und jüngsten öffentlichen Aussagen der Mitte Frauen liegt eine neo-abolitionistische Auffassung der Prostitution zugrunde. Diese geht davon aus, dass Prostitution grundsätzlich als Gewalt gegen Frauen zu verstehen sei. Der neo-abolitionistische Ansatz kommt im «schwedischen Modell» zum Ausdruck, welches den Kauf sexueller Dienstleistungen kriminalisiert und Frauen beim Ausstieg aus dem Sexgewerbe helfen soll. Das schwedische Modell wurde 2015 vom Bundesrat und 2022 vom Nationalrat abgelehnt. Doch das neo-abolitionistische Narrativ nimmt seit einigen Jahren zunehmend Platz in der öffentlichen Debatte der Schweiz ein. Auch in Europa ist es auf dem Vormarsch (Rubio Grundell 2021). Schweden hat kürzlich eine Verschärfung seines Sexkaufverbots beschlossen: Auch das Bezahlen für sexuelle Online-Dienstleistungen soll unter Strafe gestellt werden.

Die Regulierung der Sexarbeit und die Migrationspolitik

Zwischen 1992 und 2022 wurden in den Schweizer Kantonen insgesamt 213 politische Vorstösse zu Sexarbeit eingereicht – die meisten davon mit dem erklärten Ziel, den Schutz von Sexarbeitenden zu verbessern (Stalder 2025b). Trotzdem kommt dieses Vorhaben nur langsam oder gar nicht voran (Stalder 2025a). Zwei Beispiele: 1) Die Sexarbeit auf digitalen Plattformen ist bis heute gänzlich unreguliert und die Frage, wie arbeitsrechtliche Bestimmungen zum Schutz von Arbeiter·innen auf diese Plattformen ausgeweitet werden können, bleibt offen. 2) Obwohl die Sexarbeit in der Schweiz bereits seit 1992 weitgehend entkriminalisiert ist, wurde deren Sittenwidrigkeit erst 2021 vom Bundesgericht aufgehoben. Sexarbeitende konnten also ihr Recht auf Bezahlung für geleistete Arbeit erst nach 29 Jahren und 192 kantonalen politischen Vorstössen vor Gericht einfordern.

Der Grund dafür ist unter anderem, dass die Regulierung der Sexarbeit stark von der migrationspolitischen Debatte geprägt ist. In meiner Dissertation über die Regulierung der Sexarbeit in der Schweiz seit den frühen 1990er Jahren zeige ich auf, dass diese Regulierung den migrationspolitischen Diskurs der jeweiligen Zeit widerspiegelt und umgekehrt der Steuerung der Migration und Mobilität dient – und zwar selbst unter den vergleichsweise liberalen Schweizer Rahmenbedingungen der letzten Jahrzehnte. Politische Vorstösse zum Schutz von Sexarbeitenden, wenn sie über die deklaratorische Ablehnung von Ausbeutung im Sexgewerbe hinausgingen, mündeten oft in einer stärkeren Regulierung der Mobilität aus der EU und der Durchsetzung einer restriktiven Migrationspolitik anstatt in arbeitsrechtlichem Schutz für Sexarbeitende (Stalder 2025b).

Eine neue Offensive gegen unerwünschte Mobilität

Einige der aktuellen Forderungen der Mitte Frauen reihen sich in die vielen Versuche der letzten drei Jahrzehnte ein, durch die Regulierung der Sexarbeit unerwünschte Formen der Migration und Mobilität stärker zu kontrollieren. Dies trifft insbesondere auf die Forderung zu, dass Freier den Aufenthaltsstatus von Sexarbeitenden kontrollieren sollen, und auf den Ausschluss der Sexualassistenz, welche eher weissen Schweizer·innen der Mittelschicht zugeschrieben wird.

Laut dem Positionspapier der Mitte Frauen soll die Sexualassistenz für Menschen mit einer Behinderung von einer strengeren Regulierung des Sexgewerbes ausgeschlossen werden. Dies impliziert eine Abwertung der Sexarbeit: Im Gegensatz zur Sexualassistenz wird sie nicht als Arbeit anerkannt, ihr wird kein gesellschaftlicher Nutzen zugesprochen und ihre Legitimität wird in Frage gestellt – nicht zuletzt als Motiv für grenzüberschreitende Arbeitsmobilität. Es geht also nicht um den Schutz von Personen allgemein, welche sexuelle Dienstleistungen gegen Bezahlung anbieten, sondern um eine ganz bestimmte Kategorie von Sexarbeitenden, nämlich diejenige der Migrantin als Opfer.

Nach den Vorstellungen der Mitte Frauen käme paradoxerweise gerade den Männern, welche sexuelle Dienstleistungen kaufen und im neo-abolitionistischen Narrativ für das Leid der Frauen, welche Sex verkaufen, verantwortlich gemacht werden, eine zentrale Rolle zu: Sie sollen die Ausweispapiere der Sexarbeitenden kontrollieren und diejenigen, von denen sie aufgrund der Papiere – oder vielleicht auch aufgrund der Hautfarbe oder des Akzentes – denken, sie könnten nicht gesetzeskonform der Sexarbeit nachgehen, der Polizei melden. Die Folge davon wäre, dass illegalisierte Migrantinnen leichter aufgespürt und ausgewiesen werden könnten. Seit den 1990er Jahren wurden immer wieder selbst Rückschaffungen als Schutz dargestellt: Der Prostituierten als hilfloses Opfer wird die Fähigkeit abgesprochen, eigenständige Mobilitätsentscheidungen zu treffen. Dadurch scheint der sicherste Ort für sie im Herkunftsland bei ihrer Familie zu sein.

Mit der Forderung nach «mehr Schutz für Menschen in der Prostitution» lassen sich sehr unterschiedliche politische Projekte vertreten. Die Aufgabe sozialwissenschaftlicher Forschung besteht darin, solche Forderungen im Blickwinkel sozialer Machtverhältnisse zu untersuchen. Die neusten Bemühungen, die Sexarbeit teilweise oder ganz zu kriminalisieren, untermauern sowohl den gegenwärtigen Backlash gegen den Feminismus und LGBTQ-Rechte als auch den Ruf nach einer restriktiven Migrationspolitik, welcher sich in den letzten Jahrzehnten als kaum noch umstrittener Mainstream etabliert hat.

Lisa Katarina Stalder ist Postdoktorandin am Schweizerischen Forum für Migration und Bevölkerungsstudien (SFM).

Referenzen:
–Rubio Grundell, Lucrecia. 2021. The Rise of Neo-Abolitionism in Europe: Exploring the role of the Neoliberalism–Vulnerability–Security Nexus in the Prostitution Policies of the United Kingdom, Spain, France, and Ireland. Social Politics 29 (3): 1034–1056.
–Stalder, Lisa K. 2025a. New (Sex) Work? Digitalization, Circular Mobility, and Recognition in the Regulation of Sex Work in Switzerland. Swiss Journal of Sociology 51 (1): 143–161.
–Stalder, Lisa K. 2025b. The Migration Politics of Sexual Liberalism: Sex Work Regulation as Subnational Migration Policymaking in Switzerland from 1992 to 2022 (Unpublished Ph.D. Thesis). Université de Neuchâtel.