Soziale Arbeit zwischen der Ausübung von Kontrolle und humanitärer Hilfe

23.01.2019 , in ((Blog Serien, Blog series, Social Work, Staat und NGOs)) , ((Keine Kommentare))

Die Entwicklung hin zu immer restriktiverer Migrationspolitik innerhalb Europas, sowie die Einschränkung der Rechte von Migrant*innen auf die Minimalstandards der Europäischen Union fallen zusammen mit einer Privatisierung und Auslagerung von staatlichen Kontrollfunktionen. Im Namen der ‚Sicherheit‘ sind nichtstaatliche Akteure mit neuen Aufgaben konfrontiert, welche die migrationsrechtliche Kategorisierung, Kontrolle und Sanktionierung von Migranten*innen beinhalten.

Der politische Umgang mit dem Schlagwort ‚Migration‘ erzeugt finanzielle, moralische, politische und rechtliche Anreize für diverse Akteure, innerhalb der sogenannten Migrationsindustrie (Hernández-León, Gammeltoft-Hansen, and Sørensen 2013; Andersson 2014) zu agieren. Diese sehr produktive Industrie wird durch die vermeintliche Migrationskrise gefördert, sowie durch die zunehmende Einschränkung von Migrationsbewegungen mit dem Ziel, Kontrolle und ‚Sicherheit‘ zurück zu erlangen. Dies begünstigt eine Auslagerung von ehemals staatlichen (Kontroll-)Aufgaben an Dritte. Medienberichte, Vertreter*innen von Migrationsbehörden, und Nichtregierungsorganisationen (NRO) sowie Politiker*innen sind sich darin einig, dass es dem deutschen Staat nicht gelungen wäre, ohne die Hilfe von Dritten ausreichend auf die ‚Migrationskrise‘ zu reagieren. Das trifft ebenso auf das Engagement von freiwilligen Organisationen im gesamten europäischen Raum zu, welche sich um Wohnraum, materielle Unterstützung (wie Kleidung) und rechtliche Beratung von Migranten*innen kümmern. Während diese Akteure zunächst bestrebt waren, prekäre Lebensumstände zu lindern, werden sie nun verstärkt mit Aufgaben konfrontiert, welche die Selbstauffassung des ‚humanitären Sektors‘ vor ein Dilemma stellen (siehe Steinhilper 2016; Muy 2016).

Konsequenzen der Auslagerung staatlicher Kontrollfunktionen

Eine Auslagerung von ehemals staatlichen Kompetenzen auf die internationale, nationale und regionale Ebene schafft die Möglichkeit, Verantwortung zu reduzieren bzw. zu verteilen, was wiederum in einer Verwässerung von Kompetenzen und einem Verlust an Transparenz (Eule et al. 2019) resultiert. In Deutschland hat die Auslagerung des Betriebs von Flüchtlingsunterkünften sowie die Anstellung privater Sicherheitsunternehmen zu starker Kritik geführt (Komaromi 2016). Nebst gewalttätigen Auseinandersetzungen innerhalb der Unterkünfte, wurden Videos und Bilder öffentlich, in denen Mitarbeitende Bewohner*innen physisch und psychisch quälten, was zu einem Gerichtsverfahren gegen 32 Individuen führte (Bosen 2018; Dowidelt 2016). In der folgenden Kontroverse wurde jedoch die Rolle der Behörden und Politiker*innen, welche ihre angestammten Kontroll- und Betreuungsaufgaben an diese Akteure ausgelagert hatten, nicht diskutiert. Stattdessen wurde angeführt, dass die Anforderungen für eine Anstellung in Flüchtlingsunterkünften sehr niedrig seien und qualifiziertes Personal auch aufgrund der tiefen Entlohnung schwierig zu finden sei. Es gilt festzustellen, dass in der Ausbildung interkulturelle Aspekte unzureichend berücksichtigt werden. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Angst vor der ‚Flüchtlingskrise‘ und durch die wettbewerbsartige Ausschreibung wurde bei der Auswahl wenig auf die Qualität der die Unterkünfte betreibenden Organisationen geachtet. Zudem wird die Verantwortungszuordnung durch die unzähligen, oft in Unteraufträgen angestellten, Akteure geschwächt. Das macht es insbesondere für Migrant*innen schwierig, Informationen über Verantwortlichkeiten zu erhalten und zu verstehen. Der Wettbewerb um staatliche Aufträge ist gross. Um neue Aufträge zu erhalten und bestehende weiterführen zu können, müssen Organisationen gewisse Abstriche und Standardisierungen in ihrer Auftragsausführung vornehmen. Entsprechend sinkt die Qualität der Fallbearbeitung (Fee 2018), beispielsweise weil Vorgaben Angestellte zur Bevorzugung gewisser Fälle zwingen, während sie andere, vermeintlich weniger prekäre und dringliche Fälle, als weniger ‚relevant‘ kategorisieren müssen (Muy 2016).

Moralisches und professionelles Dilemma

Auch wird zunehmend von NROs erwartet, in Stellvertretung des Staates zu agieren. In Schweizer Krankenhäusern und psychiatrischen Anstalten müssen Ausschaffungstermine von Patienten geheim bleiben. Dies führt häufig zu Unsicherheit und Misstrauen seitens der Migrant*innen: Unterstützt mich der/die Sozialarbeiter*in, freiwillige Helfer*in oder dient er/sie dem staatlichen Interesse? Aus dieser Entwicklung resultiert zudem ein moralisches und professionelles Dilemma für die Akteure in der Migrationsindustrie. Die Einbettung der Sozialen Arbeit in den nationalen Wohlfahrtsstaat verpflichtet Mitarbeiter*innen zu gewissen Tätigkeiten, die eine vertrauensbasierte Beziehung zu Migrant*innen erschweren. Dadurch reproduzieren sie aber auch vorgegebene Kategorisierungen von Zugehörigkeit oder Hilfsbedürftigkeit. Jedoch gibt es auch dem professionellen Rollenbild inhärente Ziele und Idealbilder. Die Autorin stellte in ihrer Forschung fest, dass die Mitarbeiter*innen einer schweizerischen Psychiatrie es als emotional belastend empfanden, in die Ausschaffung von Migrant*innen involviert zu werden. Da zwischen beiden Institutionen eine Absprache besteht, sind sie jedoch dazu angehalten, die kantonale Polizei bei Ausschaffungen zu unterstützen. Das Personal wird über anstehende Ausschaffungen informiert, die Termine dürfen jedoch nicht an die Betroffenen weitergegeben werden, was zu einer Verletzung der Patienten-Therapeuten-Beziehung führt. Dieses Dilemma wird auch auf institutioneller Ebene festgestellt, wie das folgende Beispiel einer deutschen Polizeibehörde aufzeigt. Einerseits kümmern sich Mitarbeitende um Fragen der Integration und unterhalten entsprechend aktiven Kontakt mit Migrantenvereinigungen. Gleichzeitig sind sie für die Ausführung von Ausschaffungen verantwortlich. Dieselben Polizisten können also heute in integrativer Funktion unterwegs sein und morgen schon die gleichen Personen abholen und zum Flughafen bringen.

Mit Bezug auf die Internationale Vereinigung Sozialer Arbeiter (International Federation of Social Workers) argumentiert Wroe (2015), dass aufgrund dieser Widersprüchlichkeiten damit zu rechnen sei, dass sich Mitarbeitende für das Recht von Migrant*innen stark machen und inhumane Praktiken staatlicher Behörden unterlaufen. Die NRO Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers beispielsweise unterstreicht ihr Engagement für die ‚Humanisierung des Alltagslebens‘ (Achermann 2008) und ihre Unterstützung von Menschen, welche aufgrund ihres irregulären Status Angst vor Behördenkontakt haben. Universitäten geben den Migrationsbehörden keine Information bezüglich des rechtlichen Status von studierenden Migrant*innen.

Die Rolle von involvierten Organisationen und weiteren Akteuren bleibt dennoch oft doppeldeutig und komplex, geprägt von einer bedingten Unabhängigkeit und einer eventuellen Unvereinbarkeit ihrer Ziele (cf. Borrelli, Mavin and Trasciani 2018). Dies wirft Fragen auf zur Rolle der Sozialen Arbeit und des gesamten ‚humanitären Sektors‘, sowie deren Involvierung in staatlich vergebene Mandate, welche Akteure in Abhängigkeitsverhältnisse bringen und zu ‚Mittätern‘ machen. Wir müssen sowohl die Selbstauffassung dieser Akteure als auch die Veränderungen der Rollenzuschreibungen in eine umfassende Analyse der Migrationskontrolle und der «Sekuritisierung» einbeziehen. Eine Berücksichtigung beider Aspekte kann eine kritische Analyse der Rolle der Sozialen Arbeit in Migrationsregimen vorantreiben.

Referenzen:

– Achermann, Christin. 2008. ‘Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers: Evaluation der Pilotphase’. SFM-Studien 54. Bern: Verein Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers.
– Andersson, Ruben. 2014. Illegality, Inc. Clandestine Migration and the Business of Bordering Europe. Oakland, California: University of California Press.
– Borrelli, Lisa Marie, Mavin, Rebecca and Trasciani, Girogia. 2018. ‘A Forest with many trees’ – Mapping the migration industry and accountabilit(ies) in Europe. Working Paper (unpublished), presented within the FEPS YAN Network.
– Bosen, Ralf. 2018. ‘Gewalt gegen Flüchtlinge: “Es lag ein Kontrolldefizit vor”’. DW, 8 November 2018, sec. Asylbewerberunterkünfte.
– Dowidelt, Anette. 2016. ‘Security im Asylheim ist oft ein Job für Gescheiterte’. Welt, 21 March 2016.
– Eule, Tobias G., Lisa Marie Borrelli, Annika Lindberg, and Anna Wyss. 2019. Migrants Before the Law: Contested Migration Control in Europe. Palgrave Macmillan.
– Fee, Molly. 2018. ‘Paper Integration: The Structural Constraints and Consequences of the US Refugee Resettlement Program’. Migration Studies, 1–19.
– Hernández-León, Ruben, Thomas Gammeltoft-Hansen, and Ninna Nyberg Sørensen. 2013. ‘Conceputalizing the Migration Industry’. In The Migration Industry and the Commcercialization of International Migration, 24–44. London ; New York: Routledge.
Komaromi, Priska. 2016. ‘Germany: Neo-Nazis and the Market in Asylum Reception’. Race & Class 58 (2): 79–86.
– Muy, Sebastian. 2016. ‘Wes’ Essenspaket ich ausgeb’, Des’ Lied ich sing’? Über Abhängigkeiten Sozialer Arbeit Im Kontext Restriktiver Asyl- und Unterbringungspolitik’. Widersprüche. Zeitschrift Für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Flucht: Provokationen und Regulationen, 141: 63–72.
– Steinhilper, Elias. 2016. ‘Ausnahme und Regel. Asyl zwischen menschenrechtlichen Ambitionen und realpolitischer Praxis’. Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Flucht: Provokationen und Regulationen, 141: 13–28.
– Suarez-Krabbe, Julia, José Arce, and Annika Lindberg. 2018. ‘Stop Killing Us Slowly: A Research Report on the Motivation Enhancement Measures and Criminalization of Rejected Asylum Seekers in Denmark’. Copenhagen: Marronage.
– Wroe, Laura. 2015. ‘Social workers have a duty to speak up about the humanitarian crisis in Calais’. The Guardian, 4 August 2015.

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