(Un)merkliche Grenzen: (Im)Mobilität während der Pandemie
Im Juni 2002 trat das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU in Kraft. Seither können sich wirtschaftlich aktive Schweizer*innen und EU-Bürger*innen frei zwischen nationalstaatlichen Grenzen bewegen. Als die COVID-19 Pandemie im März 2020 ausbrach, wurden diese Grenzen zum ersten Mal nach 18 Jahren geschlossen und damit wieder sicht- und spürbar. Wie wurde dies erlebt? Ein Erfahrungsbericht einer (im)mobilisierten Arbeitsmigrantin.
Ariane* ist heute Ende 40. Vor etwas weniger als 25 Jahren zog sie das erste Mal von Portugal in die Schweiz, um in der Wäscherei eines Hotels im Oberwallis zu arbeiten. Der Region und dem Gastgewerbe blieb sie während knapp 20 Jahren treu. Den Betrieb wechselte sie hingegen regelmässig in der Hoffnung auf bessere Arbeitsbedingungen. Aus privaten Gründen – im Interview wollte sie nicht genauer darauf eingehen – entschloss sie sich, im April 2020 wieder nach Portugal zurückzukehren. Ihre Rückkehr fiel mit der COVID-19 Pandemie zusammen. Entlang den Erfahrungen von Ariane erstellt dieser Beitrag eine Chronologie der (Im)Mobilität und der Verschiebung von Grenzen während dieser internationalen Gesundheitskrise.
April 2020: Internationale Mobilität (I)
Ariane hatte auf Ende April 2020 ihre Stelle gekündigt und einen Flug nach Portugal gebucht. Mit dem Ausbruch der Pandemie wurden Lockdowns ausgerufen, Flüge storniert und Grenzen geschlossen. Um in diesem Kontext trotzdem nach Portugal zu gelangen, bat sie ihren Arbeitgeber, früher gehen zu dürfen. So flog sie Mitte April mit einem der letzten durchgeführten Flüge von der Schweiz nach Portugal. Nach dieser Reise erwarteten sie eine Zeit, in der sie sich nicht frei bewegen durfte: «Ich war 15 Tage alleine in einem Hotel isoliert. Nicht zu Hause, weil ich nicht nach Hause gehen konnte. 15 Tage!» Damit wurden die Grenzen ihrer Bewegungsfreiheit von einer internationalen Ebene auf eine lokale Ebene verschoben: ihre vier Hotelzimmerwände.
April 2020-November 2021: Interregionale (Im)Mobilität in Portugal
Nach der Quarantäne reiste Ariane in die Stadt, in der sie aufgewachsen war und in der ihre Familie lebt. Dort eröffnete sie im Sommer, nach der ersten Infektionswelle, ihr Restaurant: «Als ich in Portugal ankam, überlegte ich mir, was ich beruflich machen möchte. Ich entschied mich, ein Restaurant zu eröffnen. Es war nicht einfach, aber ich konnte arbeiten und blieb nicht zu Hause.»
Dass sie arbeiten und dafür das Haus verlassen durfte, war zentral für Arianes Pandemie-Erfahrung. In Portugal wurde neben der internationalen Mobilität auch die interregionale Mobilität eingegrenzt. In gewissen Zeiten wurden diese Restriktionen gar auf Quartiersgrenzen ausgeweitet (Cairns & Clemente, 2023). Ausnahmen von diesen Restriktionen erfolgten nur aus ökonomischen Gründen. Aufgrund ihrer Arbeitstätigkeit konnte sie eine Bewilligung beantragen, die ihr erlaubte, zwischen ihrem Wohnquartier und dem Quartier zu pendeln, in dem das Restaurant war.
Ebenfalls ausschlaggebend für das Pandemie-Erleben von Ariane war ihre Wohnsituation. Sie lebte zusammen mit ihrer Mutter und Tochter in einem Haus, was ihr ermöglichte, ihre Familie regelmässig zu sehen. Eine andere Konstellation wäre für sie «schmerzhaft» gewesen.
November 2021: Internationale Mobilität (II)
Arianes Arbeitstätigkeit blieb über die Monate und trotz wiederkehrenden Infektionswellen stabil. Sie öffnete ihr Restaurant von Montag bis Samstag und passte den Betrieb an die erlassenen Schutzmassnahmen an, indem sie von einem normalen Restaurantbetrieb zu einem Take-Away Service wechselte und «an der Türe servierte».
Die Sechstage-Woche sowie die langen Arbeitstage machten ihr jedoch zunehmend zu schaffen. In Kombination mit ihrer finanziellen Situation entschied sie sich, im November 2021 in die Schweiz zurückzukehren: «Ich arbeitete viele Stunden, hatte nur sonntags frei, aber am Schluss des Monats zahlte sich dieser Einsatz nicht aus. Ich arbeitete, um meine Fixkosten zu finanzieren. Ich konnte nichts sparen.» Als dann eine ehemalige Arbeitgeberin aus der Schweiz anrief und ihr eine Stelle im Housekeeping anbot, entschloss sie sich, ins Oberwallis zurückzukehren.
Fazit: Die Pandemie als «Grenzgang» zwischen Mobilität und Immobilität
Die Erfahrungen von Ariane schliessen an zwei Aspekte an, welche die Wissenschaft im Kontext von (Im)Mobilitätsregimen hervorhebt. Zum einen wird darauf hingewiesen, dass Grenzen in Krisenzeiten sicht- und merkbarer werden können – und dies auf verschiedenen Ebenen. Ausdruck davon sind die ansonsten durchlässigen physischen Staatsgrenzen innerhalb des EU-/Schengenraums, die aufgrund der Pandemie wieder geschlossen wurden. Lukáš Novotný und Hynek Böhm (2022, p. 337) sprechen vom grössten «Re-Bordering» Prozess in der Geschichte der europäischen Integration.
Der Fall von Portugal zeigt jedoch, dass physische Grenzen auch auf regionaler und lokaler Ebene etabliert werden können (Cairns & Clemente, 2023). Damit ist während der COVID-19 Pandemie neben einem «Re-Bordering» Prozess ebenfalls eine Verschiebung von Grenzen von der internationalen auf die lokale Ebene zu verzeichnen. Diese Grenzverschiebung hatte eine zunehmend immobilisierende Wirkung, was insbesondere bei der Beantragung einer Bewilligung für die Überquerung von Quartiersgrenzen augenscheinlich wird.
Der zweite Aspekt, der in Arianes Erfahrungsbericht deutlich wird, bezieht sich auf die Mobilisierung von gewissen Personen in einer von Immobilität geprägten Zeit. Oder in Hannah Pools Worten (2024, p. 302): Die Grenzschliessungen betrafen nicht alle Personen gleichermassen. Für saisonale Arbeitsmigrant*innen in der Schweizer Landwirtschaft wurden beispielsweise Sonderregelungen für deren Einreise erlassen, da ihre Arbeitstätigkeit als systemrelevant eingestuft wurde (Mühlemann, 2021). In Arianes Fall kann dies auf lokaler und internationaler Ebene beobachtet werden: Ihre Einreise in ein anderes Stadtquartier wurde aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit bewilligt. Auch ihre Rückkehr in die Schweiz wurde von der Arbeitgeberin und durch einen schon bei der Einreise unterschriebenen Arbeitsvertrag vereinfacht.
Daraus lässt sich schliessen, dass Arianes (Im)Mobilitätserfahrungen während der COVID-19 Pandemie von ihrer staatlichen und regionalen Zugehörigkeit sowie von der ökonomischen Relevanz, die ihrer beruflichen Tätigkeit zugemessen wurde, beeinflusst waren (siehe auch Pool, 2024). Hier zeigt sich die performative Dimension von Grenzen besonders deutlich.
*Alle in diesem Beitrag veröffentlichten persönlichen Informationen wurden anonymisiert.
Livia Tomás ist Postdoktorandin an der ZHAW, Soziale Arbeit. Im Projekt «Evolving (Im)Mobility Regimes» setzt sie sich mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migrant*innen im schweizerischen Gastgewerbe auseinander und untersucht, wie die COVID-19 Pandemie diese Bedingungen verändert hat.
Helena Gonçalves Leal ist Französisch- und Germanistikstudentin an der Universität Bern. Im Rahmen des Projekts «Evolving (Im)Mobility Regimes» kümmert sie sich um die Durchführung und Aufbereitung der qualitativen Interviews auf Portugiesisch, wie beispielsweise das Gespräch mit Ariane.
Bibliographie:
–Cairns, D., & Clemente, M. (2023). The Immobility Turn: Mobility, Migration and the COVID-19 Pandemic. Bristol University Press.
–Novotný, L., & Böhm, H. (2022). New re-bordering left them alone and neglected: Czech cross-border commuters in German-Czech borderland. European Societies, 24(3), 333-353.
–Pool, H. (2024). Immobility beyond borders: Differential inclusion and the impact of the COVID-19 border closures. Politics, 44(2), 302-316.
–Mühlemann, S. (2021, April 20). Sonderregelung für Erntehelferinnen und -helfer aus dem Ausland [Radiosendung]. Regionaljournal Bern, Freiburg, Wallis.