Fachkräftemangel und Migration: Was sind die Herausforderungen und Lösungsansätze?

Dialog unter Expertinnen und
Experten

24 November 2023 – KOF ETH Zürich


Fachkräftemangel und Migration: Herausforderungen und Lösungsansätze

Der Fachkräftemangel in der Schweiz und anderen Industrienationen spitzt sich zu. Bei einem Dialog unter Expertinnen und Experten haben Vertreter und Vertreterinnen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen über mögliche Lösungsansätze und die Rolle der Migration gesprochen.

Über 80 Experten und Expertinnen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik haben auf Einladung der KOF und des Nationalen Forschungsschwerpunktes nccr – on the move an der ETH Zürich über das Thema «Fachkräftemangel und Migration: Was sind die Herausforderungen und Lösungsansätze?» diskutiert. Wir haben die wichtigsten Erkenntnisse der Tagung in Frage-​Antwort-Form zusammengefasst:

Wie ist die Lage auf dem Schweizer Arbeitsmarkt?

Der Arbeitsmarkt in der Schweiz steht mit einer Arbeitslosenquote von 2% sehr gut da. «Wir haben eine Vollbeschäftigungssituation erreicht», sagte Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit beim Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO). Er erwarte einen leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit um ein bis drei Zehntelprozentpunkte in naher Zukunft, aber selbst bei einer Arbeitslosigkeit von 2.2% oder 2.3% würde er immer noch von Vollbeschäftigung sprechen.

Wie gross ist das Problem des Fachkräftemangels?

Die niedrige Arbeitslosigkeit ist aus der Sicht von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen eine Idealsituation, weil sie ihre Verhandlungsmacht stärkt. Für Firmen wird es aber immer schwieriger, Fachkräfte zu finden. «Der Fachkräftemangel spitzt sich zu», sagt Boris Zürcher. Treiber sei zum einen die konjunkturelle Erholung seit der Corona-​Krise. Zum anderen führten strukturelle Gründe zum Fachkräftemangel: Aufgrund des demografischen Wandels schrumpfe der Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung.

Ist der Fachkräftemangel ein rein schweizerisches Problem?

Nein. «Alle entwickelten Volkswirtschaften haben mit Fachkräftemangel zu kämpfen», sagte Michael Siegenthaler, Leiter des Forschungsbereichs Schweizer Arbeitsmarkt an der KOF und Projektleiter beim nccr – on the move. Selbst Länder, in denen es konjunkturell nicht rund laufe, wie zum Beispiel Deutschland, kämpfen mit einem Fachkräftemangel. Deshalb versuchen gerade viele Länder Migrationshürden abzubauen, um den Mangel an Fachkräften durch erleichterte Einwanderung abzumildern, etwa indem bilaterale Migrationsabkommen abgeschlossen werden oder der Zugang zu permanenten Aufenthaltsbewilligungen, etwa nach einem Studium, erleichtert wird.

Warum sind die Löhne trotz Fachkräftemangel in der Schweiz kaum gestiegen?

Dies hat verschiedene Gründe. Aus Sicht der Gewerkschaften seien die Verhandlungen zuletzt nicht gut gelaufen. «Wir sind unzufrieden mit den vergangenen Lohnrunden. Wir Gewerkschaften müssen in Zukunft noch militanter sein», sagte Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.

Was können Firmen neben Lohnerhöhungen tun, um Fachkräfte zu finden?

Neben dem Lohn sind auch die weiteren Arbeitsbedingungen wichtig, um neue Mitarbeitende zu finden, aber auch die bestehenden zu halten. Sabine Auciello, Hotelière und CFO der Krafft Gruppe, erzählte aus den Erfahrungen in ihrem eigenen Unternehmen. So habe eine Umfrage unter den Mitarbeitenden beispielsweise ergeben, dass sich die Arbeitnehmenden mehr Freizeit am Stück wünschen, woraufhin testweise eine Viertagewoche bei gleichbleibender Arbeitszeit eingeführt wurde. Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen müssten zudem mehr Flexibilität bei berufs-​ und branchenfremden Personen zeigen, forderte Eva Pauline Bossow, Head of Skills der x28 AG, und führte als Best-​Practice-Beispiel einen Fall an, in dem eine Zahntechnikerin mit ähnlichen Fähigkeiten eine Rolle in der Uhrenindustrie übernahm.

Wie hoch ist das Potenzial der stillen Reserve in der Schweiz?

Nach Einschätzung von Boris Zürcher nicht so gross wie in anderen Ländern. Die Frauenerwerbstätigkeit sei bereits hoch und viele ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die in Rente gehen, wollen auch nicht mehr arbeiten, sondern ihren Ruhestand geniessen. Dies sei in anderen Ländern wie zum Beispiel Österreich, wo die Frauenerwerbstätigkeit niedriger als in der Schweiz sei und viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen früh verrentet werden, anders. Trotzdem orteten die Teilnehmenden verschiedene Personengruppen, die im Inland besser ausgeschöpft werden könnten. Laut Daniel Kopp, Forscher an der KOF, zählen hierzu insbesondere Mütter, ältere Arbeitnehmende ab 60 Jahren, und Migranten und Migrantinnen – Gruppen, die im Arbeitsmarkt auch oft Diskriminierung und Stereotypisierung erfahren. Verschiedene Integrationsexperten merkten zudem an, dass unter den Migrantinnen und Migranten insbesondere auch Personen, die im Zuge eines Familiennachzugs in die Schweiz gelangen, zu wenig beachtet würden. Diese würden im Gegensatz zu anderen Gruppen oft keine staatliche Unterstützung bei der Arbeitsmarktintegration erhalten.

Lassen sich Potenziale auf dem Arbeitsmarkt durch eine bessere Aus-​ und Weiterbildung und eine Ausweitung der Kinderbetreuung heben?

Grundsätzlich ja. Allerdings sei ein Ausbau von Kindertagesstätten kostspielig, so Zürcher. Uneinigkeit herrschte auf dem Podium, wer die Zusatzkosten für Ausbildung und Kinderbetreuung tragen sollte, der Staat oder die Firmen? Während Boris Zürcher die Privatwirtschaft in die Pflicht nahm, betonte Simon Wey, Chefökonom des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, dass dies eine genuine Aufgabe des Staates sei. «Die Politik muss attraktive Rahmenbedingungen schaffen», sagte er. Die Firmen seien nicht dazu da, Kinder zu betreuen. Auch die Vermittlung von Allgemeinbildung und Sprachkenntnissen sei Staatsaufgabe. Die Firmen seien nur für die spezifische Ausbildung, das sogenannte «training on the job», zuständig. Daniel Lampert forderte die Betriebe dagegen auf, mehr in die Aus-​ und Weiterbildung ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu investieren. Er wies allerdings auch auf ein Free-​Rider-Problem hin, das zu einer geringen Bereitschaft der Betriebe beiträgt, Arbeitnehmende aus-​ und weiterzubilden: So laufe der Betrieb, wenn er transferierbares Wissen wie Sprachkompetenzen vermittelt, Gefahr, dass die Ausgebildeten danach zu einem anderen Betrieb wechseln. Dieses Marktversagen könne man mit gesamtarbeitsvertraglichen Ausbildungsregelungen verringern.

Welche bürokratischen Hindernisse bremsen die Arbeitsmigration in die Schweiz?

Während die Einwanderung von Arbeitskräften aus der Europäischen Union in der Regel gut und reibungslos läuft, sind die Genehmigungsverfahren für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen aus Drittstaaten oft langwierig. «Obwohl es in den letzten Jahren Verbesserungen gab, dauert es immer noch zu lange, bis die Zusage vorliegt. Fachkräfte haben dann oft schon ein Angebot einer anderen Firma angenommen», sagte Rekrutierungsexperte David Luyet, Leiter der Abteilung «Talent Attraction» bei Swisscom. Auch Patrick Leisibach, bei Avenir Suisse als Fellow im Bereich «Chancengesellschaft» tätig, berichtete, dass Start-​ups zum Beispiel in Berlin deutlich schneller die nötigen Papiere für die Einstellung neuer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vorliegen hätten, als in der Schweiz. Viele Start-​ups in der Schweiz versuchten deshalb erst gar nicht, im Rahmen der staatlichen Kontingente Fachkräfte anzuwerben, weil ihnen das Verfahren zu bürokratisch sei.

Wie gut klappt die Integration von Geflüchteten in den Schweizer Arbeitsmarkt?

Hier besteht laut Dominik Hangartner, Professor für Politikanalyse an der ETH, Co-​Direktor des Immigration Policy Labs und Projektleiter beim nccr – on the move, noch viel Luft nach oben. «Die niedrige Erwerbsintegration ist neben der fehlenden Sprachkompetenz das Hauptproblem bei der Integration von Geflüchteten», sagte er. Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen seien gefordert, Stereotype in Bezug auf geflüchtete Personen abzubauen. Selbst gegenüber Migrantinnen und Migranten der zweiten und dritten Generation, in der Schweiz oft «Secondos» genannt, gebe es bisweilen noch Vorbehalte aufgrund ihrer fremd klingenden Nachnamen, sagte die Soziologin Rosita Fibbi (Universität Neuchâtel). Auch wenn die formale Qualifikation nicht vorliege, sei ein «training on the job» eine gute Option zur Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, betonte Hangartner. Philipp Berger, Leiter der Abteilung Zulassung Arbeitsmarkt im Direktionsbereich Zuwanderung und Integration des Staatssekretariats für Migration (SEM), betonte, dass vor allem bei der Arbeitsmarktintegration der oftmals gut qualifizierten Flüchtlinge aus der Ukraine noch Nachholbedarf bestehe. Im schweizweiten Durchschnitt liegt sie bei knapp 20%. Dass Luft nach oben besteht, bestätigte auch Michael Siegenthaler. Das erkenne man daran, dass die Erwerbstätigenquote der Ukraine-​Geflüchteten, je nach Kanton, zwischen knapp 10% (Kanton Genf) und fast 50% (Kanton Appenzell-​Innerhoden) schwanke, obwohl sich die Beschäftigungsfähigkeit der Geflüchteten zwischen den Kantonen nicht wesentlich unterscheiden dürfte.

Muss auch die Schweizer Gesellschaft umdenken?

Nach Ansicht von Hangartner ist die Schweiz «ein Immigrationsland, ohne sich als solches wahrzunehmen». Es sei eine gesellschaftliche Herausforderung, eine Willkommenskultur für Migranten und Migrantinnen zu schaffen.

Lässt sich der Fachkräftemangel durch Einwanderung allein lösen?

Nein. «Wir müssen zuerst unsere Hausaufgaben im Inland machen», sagte Simon Wey. Neben einer besseren Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials setze er grosse Hoffnungen in den technischen Fortschritt. Mehrere Referenten wiesen auch darauf hin, dass die Bereitschaft der Schweizer Bevölkerung zur Aufnahme von ausländischen Arbeitskräften nicht überstrapaziert werden dürfe. «Die Migration muss von der Bevölkerung akzeptiert werden», sagte Patrick Leisibach.

Diese Tagungszusammenfassung basiert auf einem am 28. November 2023 von der KOF Konjunkturforschungsstelle (ETH Zürich) veröffentlichten Artikel von Thomas Domjahn. Das Copyright für die Fotos liegt bei: Thomas Domjahn 2023 (KOF ETHZ). Die französische Version ist hier verfügbar.

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