Die staatliche Integrationsvermutung
Einbürgerung und Integration sind zwei eng verknüpfte Begriffe, die immer wieder zu gesellschaftlichen, politischen und medialen Kontroversen Anlass geben. Auch im Rahmen der vorgeschlagenen erleichterten Einbürgerung der 3. Ausländergeneration steht die Frage der «Integration» zur Diskussion: Kann und soll der Staat vermuten, dass eine ausländische Person der 3. Generation integriert ist? Oder muss diese Person ihre «Integration» beweisen?
Das Verfahren der erleichterten Einbürgerung setzt aktuell voraus, dass die Bewerberin oder der Bewerber in der Schweiz integriert ist, die schweizerische Rechtsordnung beachtet und die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährdet. Das neue Bürgerrechtsgesetz, das am 1. Januar 2018 in Kraft tritt, sieht – im Gegensatz zum aktuellen Gesetz – spezifische Integrationskriterien vor. Eine Integration in der Schweiz zeigt sich wenn: eine Person die öffentliche Sicherheit und Ordnung beachtet, die Werte der Bundesverfassung respektiert, sich im Alltag in Wort und Schrift in einer Landessprache verständigen kann und am Wirtschaftsleben teilnimmt oder in Ausbildung ist. Schlussendlich verlangt das Gesetz auch, dass diese Person die Integration der Familienmitglieder fördert und unterstützt. Dabei wird der Situation von Personen, die diese Kriterien beispielsweise aufgrund einer Krankheit, Behinderung oder anderen gewichtigen persönlichen Umständen nicht oder nur erschwert erfüllen können, Rechnung getragen.
Die Verordnung zum neuen Bürgerrechtsgesetz präzisiert diese Integrationskriterien, die sowohl im ordentlichen wie im erleichterten Einbürgerungsverfahren erfüllt sein müssen. Zusätzlich wird im ordentlichen und im erleichterten Einbürgerungsverfahren vorausgesetzt, dass die einbürgerungswillige Person die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährdet.
Die Integrationskriterien sind zu erfüllen – aber es gilt die staatliche Integrationsvermutung
Das vorgesehene erleichterte Einbürgerungsverfahren für ausländische Kinder der 3. Generation sieht vor, dass diese unter bestimmten Voraussetzungen (Art. 24a E-BüG) ein Einbürgerungsgesuch einreichen können. Die aufgelisteten Bedingungen enthalten das Stichwort Integration nicht.
Die Integrationsfrage ergibt sich jedoch aus den allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen für eine erleichterte Einbürgerung. Diese verlangen, dass eine Person in der Schweiz integriert ist. Im Unterschied zum ordentlichen Einbürgerungsverfahren muss beim erleichterten Einbürgerungsverfahren nicht die einbürgerungswillige Person ihre Integration beweisen, sondern der Staat – respektive die zuständige Behörde – muss beurteilen, ob eine Person integriert ist. Zu diesem Zweck holt die zuständige Behörde Berichte ein, die belegen, dass dem (nicht) so ist. Es gilt die «staatliche Integrationsvermutung». Dieses Konzept ist nicht neu: im erleichterten Einbürgerungsverfahren, das unter anderem bei ausländischen EhepartnerInnen von SchweizerInnen sowie ausländischen Kindern eines schweizerischen Elternteils bereits heute zur Anwendung kommt, gibt es diese Integrationsvermutung ebenfalls. Der Staat nimmt an, dass diese Personen integriert sind. Analog soll dies nun auch bei ausländischen Kindern der 3. Generation gelten.
Im Gegensatz zum ordentlichen Einbürgerungsverfahren haben die Kantone im erleichterten Einbürgerungsverfahren ein Anhörungsrecht: bevor das Staatssekretariat für Migration (SEM) über die Gutheissung eines Einbürgerungsgesuchs entscheidet, hört es den Kanton an. Die Kantone haben zwar keine selbständige Entscheidungskompetenz über das Einbürgerungsgesuch, werden jedoch gerade bei Integrationsfragen hinzugezogen. Das heisst, dass das SEM die Kantone um einen sogenannten Erhebungsbericht bittet, um die Integration zu prüfen. Aufgrund dieses Berichts kann entschieden werden, ob das Erfordernis der Integration von der Gesuchstellerin oder dem Gesuchsteller erfüllt oder nicht erfüllt ist. Das Tätigwerden des SEM, respektive dieser kantonale Erhebungsbericht entspricht einer staatlichen Integrationsvermutung: nicht die Gesuchstellenden müssen ihre Integration beweisen, sondern das SEM holt die entsprechenden Informationen selber ein.
Die staatliche Integrationsvermutung war im Vernehmlassungsverfahren und in den parlamentarischen Debatten umstritten. Einige Kantone begrüssten die Integrationsvermutung, andere kritisierten, dass diese zu lasch sei und stichprobenartig Integrationskontrollen durchgeführt werden müssten. Auch in den Parlamentsdebatten waren ähnliche Voten zu vernehmen. Interessant ist deshalb, dass weder die geplante Verfassungsänderung noch der damit zusammenhängende gesetzliche Vorschlag und das neue Bürgerrechtsgesetz den Begriff der Integrationsvermutung enthalten.
25 000 junge ausländische Menschen
Das erleichterte Einbürgerungsverfahren für die 3. Generation betrifft aktuell rund 25 000 junge Ausländer und Ausländerinnen. Diese Personen sind in der Schweiz geboren und ihre Eltern respektive Grosseltern kommen mehrheitlich aus Italien, der Türkei und den weiteren Staaten Südeuropas. Sie erfüllen die vom Gesetz festgelegten Bestimmungen und die Kriterien, auf welchen die vermutete Integration basiert. Ob die Schweiz diese hier geborenen Menschen anerkennen wird, zeigt sich am 12. Februar 2017. Und zwar dann, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten und der Kantone der Verfassungsänderung zustimmen und somit anerkennen, dass in der Schweiz geborene Kinder integriert sind, ohne dass sie ihre Integration beweisen müssen.
Stefanie Kurt
PostDoc, nccr – on the move, Universität Neuenburg
Etwa 25% der über 18jährigen Personen, die in der Schweiz leben, haben auf Bundesebene kein Recht auf politische Mitwirkung, weil sie nicht eingebürgert sind und demzufolge keinen Schweizer Pass besitzen. Im Vorfeld zur Abstimmung über die erleichterte Einbürgerung von Personen der dritten Ausländergeneration, die am 12. Februar 2017 stattfindet, publiziert der «nccr – on the move» eine Reihe von Blog-Beiträgen mit Daten und Fakten zur Einbürgerung in der Schweiz.